Ein Gastbeitrag von Julian Maier
Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger (WU Wien) hat kürzlich im Rahmen der Preisverleihung des Theodor-Körner Fonds eine Festrede gehalten, welche nachträglich im Standard[1] veröffentlicht wurde. In dieser beschreibt Kohlenberger Wissenschaft als immer schon politisch und kontrastiert „engaged“, politisch Stellung beziehende Forschende, mit „disengaged scientists“, welche „distanziert, neutral und abgehoben“ seien. Ich durfte als einer der Theodor-Körner-Fonds PreisträgerInnen die Rede von Frau Kohlenberger vor Ort hören. Ich sehe einige dieser getätigten Aussagen als problematisch und werde in diesem Rahmen eine andere Sicht der Dinge vorstellen.
Wie Frau Kohlenberger zu Beginn Ihres Artikels feststellt, passiert Wissenschaft, passiert generell nichts Menschliches, in einem „sozialen oder politischen Vakuum“. Dies ist natürlich richtig, wenngleich trivial. Genauso gut kann man mit dem „linguistic“ oder „spatial turn“ argumentieren, dass alles letztendlich sprachlich vermittelt bzw. in einem sozio-kulturellem Raum zu verorten ist. Existenzielles Dasein immer auch als In-der-Welt-Sein. Wissenschaft, nach Thomas Kuhn, passiert ebenso größtenteils innerhalb herrschender Paradigmen, die einen Rahmen und Stabilität geben – diese sind jedoch, wenn die Argumente und Fakten überzeugend genug sind, veränderbar. Auch klarzustellen ist, es gibt nicht „die Wissenschaft“, sondern diese besteht aus sehr vielen heterogenen AkteurInnen. Ich argumentiere, dass eine zu starke Vermengung der Ebenen Politik und Wissenschaft nicht zwangsweise bzw. nur unter gewissen Bedingungen wünschenswert ist.
Man kann nun Frau Kohlenbergers These, dass „disengaged scientists“ mitverantwortlich für aktuelle Wissenschaftsskepsis seien, nach Hegel, mit der Antithese konfrontieren: Die Wissenschaftsskepsis ist teilweise darin bedingt, dass manche WissenschafterInnen zu „engaged“ sind. Angetrieben von persönlichen Überzeugungen oder Anreizen und verbunden mit herrschender Politik, werden wissenschaftliche Diskurse einseitig präsentiert oder Meinungen als Fakten dargestellt. Dies mündete u.a., um bei dem von Frau Kohlenberger gewählten Beispiel der Corona-Pandemie zu bleiben, in der Situation, dass in der Kommunikation der österreichischen Regierung und auch österreichischer ExpertInnen während der Pandemie Ebenen der Kommunikation, wie Florian Aigner (2021) anschaulich herausgearbeitet hat, vermengt wurden. Des Öfteren war nicht klar: Wurde wirklich ein eindeutiges (im Sinne von sehr wahrscheinliches) wissenschaftliches Faktum kommuniziert oder eine, wissenschaftlich teilweise durchaus fundierte, aber international auch oft anders gesehene, Meinung präsentiert? Gerade während der Pandemie wurde kaum der Blick über den österreichischen Tellerrand gewagt und lokale Maßnahmen bezüglich ihres Erfolges mit internationalen verglichen. Diese Kritik müssen sich sowohl PolitikerInnen als auch „engagierte“ ExpertInnen gefallen lassen – und genau dies kann zu Wissenschaftsskepsis in der Bevölkerung führen. Nun ist es nicht so wie Frau Kohlenberger darlegt, dass primär ein „disengaged scientist“, eine möglichst neutrale, unpolitische ForscherIn, von populistischen Strömungen vereinnahmt werden kann, sondern umgekehrt eher so, dass WissenschaftlerInnen, die zu „engaged“, zu politisch aktivistisch agieren, viel eher auch politisch instrumentalisierbar sind, da kritische Distanz fehlt.
Frau Kohlenberger und ich, wir haben ein anderes Wissenschaftsverständnis. Dies mag auch darin begründet sein, dass mein Forschungsalltag eher naturwissenschaftlich und Frau Kohlenbergers kultur-geisteswissenschaftlich geprägt ist. Objektivität, wie Frau Kohlenberger schreibt, ist für mich beruflich kein Mythos, sondern ein, wenn nicht DAS, wissenschaftliche Ideal. Unerreicht und unerreichbar natürlich, darin sind wir uns einig. Streben nach Objektivität bedingt jedoch nicht die unreflektierte Behauptung „wissenschaftlicher Wahrheiten“, wie Frau Kohlenberger argumentiert, sondern damit geht immer auch eine Relativierung jeglicher Absolutansprüche von Wahrheit, die oft wissenschaftlich schnell überholt werden, einher. Faktenbasiertes Berichten von Forschungsergebnissen sehe ich in der Naturwissenschaft eher durch „publish or perish“ gefährdet.
Ich bin Frau Kohlenbergers Meinung, wenn Sie einen kritischen Dialog von WissenschafterInnen mit Gesellschaft und Politik fordert. Wissenschaftskommunikation auf Augenhöhe ist mir und vielen meiner KollegInnen wichtig. Es gibt jedoch auch andere Zugänge in der Wissenschaft und keinen Weg, der für alle passend ist. Genauso braucht es Grundlagenforschung betrieben von Menschen, die allein an der Lösung eines Problems interessiert oder neugierig immer tiefer in kleinste Forschungsbereiche eindringen und an keiner Auseinandersetzung außerhalb der wissenschaftlichen Community interessiert sind. Ein aktuelles Beispiel dafür ist Katalin Kariko, die sich selbst in ihrer Forschungstätigkeit als „single-minded“ beschreibt, aber als eine der wichtigsten Personen in der frühen mRNA-Forschung einen essentiellen Beitrag für die zukünftige Nutzbarkeit dieser Technologie, gegen Widerstände und mangelndes Interesse, geleistet hat. Sie tat dies aus Leidenschaft und Faszination für das Thema und kaum jemand ahnte, welchen translationalen Wert ihre Grundlagenforschung irgendwann haben würde. Sie sieht Wissenschaft als praktische Tätigkeit an der „bench“ an, und politische sowie soziale Auseinandersetzung damit als eher anstrengend und zweitrangig, wobei es vermutlich ein Fehler wäre, Frau Kariko als „disengaged scientist“ im Elfenbeinturm zu beschreiben.
Zurück zu Hegel. Kann eine Synthese der genannten gegensätzlichen Positionen gefunden werden? Natürlich lebt Wissenschaft von engagierten, interessierten Personen. Ich stoße mich jedoch an Frau Kohlenbergers Auslegung des Wortes „engaged“. WissenschafterInnen können sowohl nach innen, in ihrem Bereich, und/oder auch nach außen engagiert sein. Essentiell erscheint mir hier jedoch eine Unterscheidung der Ebenen im Diskurs. Kommuniziere ich als WissenschaftlerIn ein aktuell weithin akzeptiertes Faktum oder eine Meinung von mir als Privatperson (wie ich hier)? Keine Frage, dass in manchen Bereichen, in denen man leidenschaftliche Überzeugungen hat, dies schwerfällt. Persönliche Betroffenheit, wie Frau Kohlenberger sagt, macht auch nicht zu einer weniger guten Wissenschafterin – sondern menschlich und sympathisch, aber die Ebenen sollten getrennt werden und wissenschaftliche Ergebnisse nicht dadurch gefärbt sein.
Mit Frau Kohlenbergers Anspruch Wissenschaft für „eine bessere Welt“ zu machen, geht leider auch oft die Anmaßung zu wissen, wie diese denn konkret auszuschauen habe, einher. Frägt man weltweit 8 Milliarden Menschen, würden zwar vermutlich einige Themen wiederkehrend sein, wie diese erreicht werden sollten, wäre auf Grund der vielen Stakeholder kaum konsensfähig. Anspruch diese Wahrheit einer besseren Welt (oder den Weg dorthin) nun sicher zu kennen, ist nicht vereinbar mit einer möglichst objektiven, aber dennoch pluralistischen Wissenschaft. Allein die letzten beiden Jahre reflektierend, sahen wir doch des Öfteren verschiedene Disziplinen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen: ExpertInnen aus Virologie, Public Health, Pädagogik, Ökonomie, Kinder- und Jugendpsychologie und viele weitere legten ihre teils konträren, aber jeweils wissenschaftlich fundierten Sichtweisen dar. Die Forschung an sich war hier nicht per se politisch, sondern datenbasiert – wie dann politisch damit umgegangen, welche ExpertInnenmeinungen gehört, präsentiert (vielleicht sogar manchmal instrumentalisiert) und wessen Wohlergehen priorisiert wurde, ist wiederum eine gesamtgesellschaftliche und (medien-)politische Frage.
Der von Frau Kohlenberger vorgebrachte Dualismus von „disengaged“ und „engaged science“ greift zu kurz, da Sie ja selbst schließt, dass WissenschafterInnen „immer und zwangsläufig einen eigenen Standpunkt“ haben. Es wird wohl eher eine graduell-kontinuierliche Abstufung sein, wie sehr und in welcher Form man seine eigenen Überzeugungen in die Arbeit einfließen lässt. Wir, als Gesellschaft, brauchen natürlich engagierte politische AktivistInnen und engagierte WissenschafterInnen – egal ob diese Rollen in einer Person oder in mehreren präsent sind. Es erfordert jedoch ein hohes Maß an Selbstreflexion und Transparenz, sich in seiner Forschung weder durch „emotional bias“ noch durch politische Instrumentalisierung in eine Position der fehlenden kritischen Distanz zu bringen.
Julian Maier ist Mediziner, Philosoph und Anglist. Derzeit arbeitet er als Forscher im Bereich der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung der Medizinischen Universität Wien.
Weiterführende Quellen:
Auch der Wissenschaftsbetrieb kann sich nicht um die Frage herumdrücken oder sich gar von ihr distanzieren, ob nicht auch in ihm das an sich unwissenschaftliche und eher politische Mehrheitsprinzip gilt, wenn es darum geht, praktisch wirksame Entscheidungen (Politik) zu treffen bzw. pragmatische - also nicht rein hypothetische - Aussagen (Wissenschaft) zu generieren. Desto nachweislich sorgfältiger muss er darauf achten, zuvor jedes, aber auch jedes sachlich rückverfolgbare Argument aufzugreifen und dann so weit wie praktisch möglich zu berücksichtigen