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Neue Ordnung, alte Unordnung


Literarischer Essay von Mladen Savić



Wäre unsere Gesellschaft wenigstens auf der Suche nach sich selbst, würden wir über unser Selbstverständnis noch irgendwie diskutieren können. Da die öffentliche Deklaration eines demokratischen Wesens, formal bis zum Erbrechen, uns völlig zu reichen scheint, gibt es keine Diskussion mehr darüber. Es handelt sich hier nicht um eine Krise der Repräsentation, sondern um das tiefer liegende gesellschaftliche Problem, dass wir in der Demokratie, einer kapitalistischen, im Vorhinein nicht richtig repräsentiert werden, am wenigsten in den allgemeinen Interessen und entscheidenden Lebensbereichen. Wir, die Unsichtbaren und Ungehörten, sind, wie Pierre Rosanvallon sagt, im Großen und Ganzen „ausgeschlossen aus der Welt der Gesetze, der Welt der Regierenden, der Institutionen und der Medien“. Das Kapital, unantastbar unterdessen, wird da mit zweifelhafter Selbstverständlichkeit herausgenommen, weil es sehr wohl gesehen, gehört, umworben und auf allen Ebenen bevorzugt wird. Die Stimmlosen, eigentlich Millionen von uns, wenn wir es genau nehmen, erfahren auf diese Weise eine implizite Entwertung, Leugnung und Verachtung. Wir sind so austauschbar und machtlos, dass man es uns spüren lässt. Und keinerlei Protest oder Demonstration, per Definition in der Defensive, ändert etwas an diesem Umstand, an dieser kulturellen Schieflage, an der Schande der Ungleichheit.


Scheindemokratisch


Die dringend nötige Veränderung kündigt sich nicht in besonderen Egos, humaneren Ausbeutungsformen oder endlosen Konferenzen an, in denen wir moralische Manifeste und hölzerne Petitionen verfassen: als folgenlose Monster der Mittelmäßigkeit für eine falsche Zukunft, die nie eintreten wird. Worauf dürfen wir noch hoffen, wenn wir sogar als Protestierende ebenso fossilisiert und lebensfern klingen wie die Institutionen der Macht? Wir sind infiziert vom Individualismus, dem wir unbewusst nachgeben und dann innerlich verbrämt nachgehen. Darum sind wir nicht einmal imstande, unsere wahren Interessen zu identifizieren, sondern besudeln jedes größere Wir, jede wahre Gemeinschaft, jedes wehrhafte Kollektiv leichtfertig mit der Verdächtigung, ein Kampfeswille der Masse würde zwangsläufig in einer neuen Unfreiheit und totalitären Entartung münden. Was sich darin ausdrückt, ist eine unbegründete und geborgte Angst, ein Phantomschmerz sozusagen als die von uns verinnerlichte Urangst elitärer Minderheiten, dass die Masse sie los wird und das Ruder an sich reißt, indem sie lernt, sich zu organisieren im Sinne der Selbstbestimmung. Wir denken zuweilen ähnlich, obwohl wir nicht zur herrschenden Klasse gehören, also zu dem, was wir Elite nennen.

Auf eine Anerkennung von menschlichen Bedürfnissen lässt sich insgesamt lange warten, sobald ihnen Kapitalinteressen und betriebswirtschaftliche Sachzwänge gegenüberstehen. Neu ist dieses Phänomen nun gar nicht. Entsprechend alt fallen auch die Argumente zugunsten dieser Art der Ordnung aus. Wie ein alter, weißer Mann zu behaupten aber, der Klassenkonflikt als Grundwiderspruch des Kapitalismus und geschichtlicher Motor wäre auch abseits linker Theorie, bitte schön, nichts Neues, erinnert anschaulich daran, wie veraltet, verstaubt und heruntergekommen die Einwände gegen eine massenhafte Befreiung wirken. Die Karten sind verteilt und die Seiten gewählt. Wir sollten es eilig haben, aber wir lassen uns Zeit. Die Scheindemokratie hat mit Kaufkraft und Konsum unsere Seele geschmiert und zehrt dank dieses schmutzigen Deals und vagen Versprechens noch von ihrem einstigen Image, um das sie sich immer weniger kümmert. So hat es sich ergeben, dass unser Zeitalter nicht von uns selbst, sondern vor allem von Machtstrukturen geprägt ist. Wo sich die Ersten unter den Gleichen tummeln, muss es auch die Letzten unter den Ungleichen geben.


Sprachlich wirklichkeitsfern


Die Sprache der Politik, floskelhaft und fast schon so unverständlich wie der sinnentleerte Werbejargon, hat kaum mehr Bezug zum unmittelbaren Leben. Diese auf das System zugeschnittene Sprache schleppt sich dahin in ihren magischen Scheinwelten, die mit der Wirklichkeit verwechselt werden, und überlebt nur mithilfe medialer Präsenz und penetranter Wiederholung, tagein, tagaus. Es ist kein Zufall, dass der Begriff der Nähe, zum Beispiel als „Bürgernähe“, an Bedeutung gewonnen hat, denn er muss herhalten für einen mangelnden Wirklichkeitssinn, welchen er nie und nimmer ersetzen kann. Mit anderen Worten, die politische Demokratie, ökonomisch eine Diktatur des Kapitals, gaukelt vor, es würde um weitaus mehr gehen als Profite, was sichtlich nicht stimmt. Wir wissen es alle und tun so, als hätten wir es vergessen oder als wäre alles viel komplizierter. Wir, die Blinden mit offenen Augen, sind Meister der Verdrängung geworden – aber nur, weil wir uns angesichts so kolossaler Problematiken überfordert, allein und hilflos fühlen. Was tun, bleibt die Frage aller Fragen. Der innere Widerspruch zwischen dem politischen Prinzip und dem soziologischen Prinzip wird sich trotzdem nicht in Luft auflösen, auch dann nicht, wenn wir gebildet sind, wählen gehen, Bio bevorzugen, Abfälle trennen und uns für aufgeklärt halten. Seit der Individualismus die Persönlichkeitsbildung erfolgreich ins Out befördert hat, wünscht das Individuum keine kollektive Utopie mehr. Das Erträumen der besseren Welt, einer klassenlosen, gerechten, zärtlichen, sinnerfüllten, ist aus. Nicht die Gottesidee ist tot, wenngleich es ein Symptom irdischen Elends bleibt, sondern die politische Phantasie als heute vorstellbarer Handlungsspielraum. Wir erleben uns nicht als Mitmenschen, sondern als Konkurrenten: in Ausbildung, Karriere, Job, Sex usw. Formbar wird die Wirklichkeit im Anschluss nur noch durch ihre Vereinfachung und durch gegenseitiges Gezerre zum Schaden der meisten. Immer und überall offenbart sich das Haben als letzte Erwägung des individuellen Lebenswegs, insofern als einzig Eigentum in dieser Gesellschaftsformation ein ruhiges Alter sichert.


Ungleichheit als Ordnung


Was man gemeinhin Ordnung nennt, lässt sich gesellschaftlich begreifen als organisierte Aufrechterhaltung von Ungleichheit, und zwar nicht nur materiell und strukturell im nationalen und globalen Maßstab, sondern auch im Denken, Fühlen und Handeln der Einzelnen, aus denen sich die all das duldende Masse zusammensetzt. Länder und Regionen verzeichnen infolge geschichtlicher Verbrechen eine ungleichmäßige Entwicklung, Völker und Sprachgruppen genießen unterschiedliche Behandlung und Entfaltungsmöglichkeiten, Klassen und Bevölkerungsgruppen landen in dramatisch abweichenden Wohnverhältnissen, Gesundheitslagen und Bildungsgraden, und selbst die Geschlechter können von der gelebt beschämenden Ungleichheit ein Liedchen singen. Alles in allem wäre es in Ordnung so, wollen uns die zeitgenössischen Wertedebatten nahelegen – man müsste da bloß ein bisschen nachjustieren. Das Gefühl, das diese Art von Welterlebnis und gemeinschaftlichem Selbstbild begleitet, dient der Beruhigung unseres Gewissens. Kein Wunder, dass uns das Politische als Tagespolitik hin und wieder ermüdet! Es zelebriert geradezu die schlechte Inszenierung und verfehlt dadurch die obige Funktion, uns versöhnlich zu stimmen mit der Illusion.

Ordnungshüter nach innen und nach außen garantieren in Form von Polizei und Militär notfalls, dass die besagte Ordnung, die aus menschlicher Sicht eine Unordnung ist, in den Grundfesten bestehen bleibt. Die institutionelle und internationale Gewaltandrohung oder gar offene Repression als letztes geeignetes Mittel im Falle widerständigen Verhaltens oder aussichtsreicher Gegenwehr kommt nicht mehr aus ohne ein vorangehendes, gezieltes Einwirken auf die Mehrheit der Lohnabhängigen und die öffentliche Meinung: als eine Art ideologischer Intervention, die der eigentumslosen Mehrheit unausgesetzt ins Ohr säuselt, dass sie weder eigentumslos noch eine Mehrheit sei und dass die Interessen der privilegierten Minderheit auch die ihrigen wären. Meist achselzuckend und manchmal auch murrend nimmt man das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit hin. Viele von uns, die damit nicht einverstanden sind, fragen sich aus Verlegenheit: Was kann man denn tun! Soll man sich denn mit einer Kalaschnikow vor das Parlament oder die OPEC-Zentrale stellen und dann ins Gefängnis oder in die Irrenanstalt einweisen lassen? Nein. Stattdessen: Augen zu, und durch! Da zu hoffen, fällt schwer. Der Kapitalismus hat sich sogar die Kapitalismuskritik einverleibt, verflacht und als intellektuellen Werbeslogan wieder ausgespuckt. Das ist unser täglich Brot, das nach Trans-Humanismus und digitaler Kontrolle schmeckt.

Der Singsang von der nicht ganz perfekten, aber doch der besten Welt, die wir hätten, hört niemals auf, weder in den staatlichen Organen und privaten Medien, noch in der Erziehung durch die stummen Verhältnisse da draußen, die uns wohl oder wehe zur Anpassung an die Ungleichheit als Lebensprinzip zwingen. Intellektueller Tiefpunkt dieser post-ideologischen Operette, die sich als liberale Gesinnung und gute Absicht tarnt, stellt die nunmehr verbreitete Ansicht dar, dass ein Loswerden von Geburtsprivilegien am Ende noch den Untergang aller Kultur auslösen würde. Wir wissen allerdings, es ist gelogen, denn Weizen anbauen, Korn mähen und Brot backen lässt sich auch ohne die Getreidebörse von Chicago oder die Nahrungsmittelspekulationen der Wallstreet. Die Arbeitsteilung nämlich würde selbst nach großen Umwälzungen nicht grundlos verschwinden, denn sie könnte an sich auch im technologischen Zeitalter ohne Ausplünderei funktionieren. Allein, wir sind zunehmend unfähig geworden, sich andere, sinnvollere Formen des Zusammenlebens konkret vorzustellen, geschweige denn zu planen und in Angriff zu nehmen. Dafür reicht unser Leidensdruck nicht. Es ist eine mittels repressiver und ideologischer Apparate ganz und gar geschützte Ordnung.

Die Ungleichheit ist, so schwierig ihr Begriff auch sein mag angesichts seiner Allgemeinheit und Deutungsweite, keine Erfindung, keine haltlose Kritik und sicherlich kein Hirngespinst. Im Leben entpuppt sie sich als ein Ort permanenter Abwertungen hier und Aufwertungen da, als allerorts stetes Disziplinieren und Konformieren der Menschen zum Zwecke der Akzeptanz von Herrschaft, und als allumfassende Örtlichkeit, wo das Unrecht und die Widersprüche walten und die Skrupellosen und Mächtigen letztlich das Sagen haben. Ihre Entscheidungen mögen oft falsch sein, doch von unten korrigierbar sind sie in Summe eher nicht. Ihre menschlichen Vergehen und ihr gesellschaftliches Versagen werden einerseits laufend zu Kavaliersdelikten verklärt und andererseits dieselben Strukturen, die derlei Monstrositäten erschaffen, gleichzeitig heiliggesprochen. Die Oberen freut es freilich. So ergibt es sich, dass die unpersönliche Postleitzahl zum Indiz für die persönliche Lebenserwartung wird und die Hautfarbe etwa zu einem recht wahrscheinlichen Kriterium für Lebensqualität und Chancen. Heilig ist hier höchstens noch ein Recht auf Unrecht.

Ungleich verteiltes Eigentum, Konkurrenz und Egoismus sollen angeblich, so das kapitalistische Dogma seit Anbeginn, zum Wohlstand und Glück aller führen, doch dem ist nicht so. Wir müssen uns in dieser Hinsicht nichts vormachen. In der Regel und im Detail ist es uns allen bekannt. Für den größeren Ablauf der Menschenschändung, Völkerknechtung und Weltzerstörung ist es dennoch nicht weiter relevant. Was wir wissen oder nicht wissen, interessiert den modernen Herrschaftsapparat nicht im Geringsten. Im Saft seiner Selbstherrlichkeit und Unantastbarkeit kann er es sich leisten, auch Verbrechen zu begehen und nach Belieben dreist zu lügen. Wer, bitte schön, soll ihn aufhalten! Das revolutionäre Subjekt, das die Welt zu verändern verspricht, ist nun weg und raus aus den Köpfen, während die Ungerechtigkeit ungehindert weiter werkelt. Kurzum, die Macht des Bestehenden ist gewaltig, nicht zu unterschätzen und nur mit zielführenden Mitteln zu bekämpfen. Ziel ist demnach der Fortbestand der intelligenten Spezies Mensch: durch Sturz des Systems von Eigentum und Ungleichheit, zwecks vernünftiger Handhabe unseres Lebensraums Erde und ihrer Ressourcen. Sozialismus oder Barbarei – diese Losung Rosa Luxemburgs ist eine zum Teil überholte Fragestellung, wie wir sehen.


Modern imperial


Das moderne Imperium, unter dessen Rockzipfel wir, behütet von gigantischen Bürokratien, Banken und Atombomben, unser Leben nach industrieller Vorgabe erfinden und wie Lohnsklaven fristen, spürt den Tag der Abrechnung nahen, wenn Klimakatastrophe, Konflikt und Krieg mehr und mehr an seine eigenen Grenzen rücken. Was sich darin ankündigt, ist voraussichtlich unschön und schmerzhaft. Imperien wachsen ja nicht endlos. Der Reichtum und dessen leibliche Vertreter werden viel eher das Überleben von Menschheit und Umwelt sinnlos opfern als die Institutionalisierung des Unrechts und die angestammte, gehobene Position. Ein massenhaftes Bewusstsein von der Schädlichkeit dieses pyramidalen Prinzips fehlt zwar nicht allesamt, ist indes nicht zum weltpolitischen Faktor geworden. Da gibt es nichts zu beschönigen. Niemand sonst wird uns retten! Und wir brauchen definitiv Rettung vor der gewohnten Ungleichheit, die auf vielen Ebenen herrscht: in internationalen Beziehungen, wo Angriffskriege unterschiedlich bewertet und bestraft werden; in Rechtsfragen bei den Reichen, die, ganz gleich wie kriminell, meist unbeschadet davonkommen, oder bei den Flüchtlingen, die man ganz ungeniert rechtlich ungleich behandelt; in den gesellschaftlichen Prioritäten bei den Klassen, wo weder Lebensbedingungen und Infrastruktur, noch familiäre Situation und individuelle Zeitfreiheit annähernd vergleichbar wären; Ungleichheit, wie gesagt, aber auch zwischen den Geschlechtern, quasi als vertraute Missachtung der halben Menschheit.

Solange diese invasive Ordnung – invasiv in dem Maße, als sie alle Lebensbereiche durchdringt – in den Industrienationen eine imperiale Lebensweise ermöglicht, solange sie kontinuierlich die dazu nötigen Güter des täglichen Bedarfs und eines bescheidenen Luxus liefert, und solange sie sich um Informationshoheit und kommerzielle Manipulation kümmert, scheint sie keine ernst gemeinten Widersacher zu finden oder auf mehr zu stoßen als vielleicht moralische Ablehnung. Der aktive Widerstand, dessen Erfolg an der Angst der Herrschenden bemessen werden sollte, bleibt vielmehr aus. Das Wissen um den fragwürdigen Transfer von Arbeitskraft und Naturschätzen und somit von Kapital aus dem globalen Süden in den globalen Norden zum Vorteil der einen und auf Kosten der anderen ist keinerlei Grund, den diskriminierenden Zustand abzulehnen, im Gegenteil. Wir arrangieren uns heimlich damit, was in Ermangelung gefühlter Alternativen durchaus verständlich ist. Aber unser Arrangement steht felsenfest, nicht zuletzt, wenn wir die Humanisierung der Welt auf morgen verschieben und ihr Datum irgendwann nach unserem Ableben ansetzen. Derweil winken uns, wenngleich von Weitem, allerlei unangenehme, künftige Lebensbegleiter zu: die Inflation und Weltwirtschaftskrise, die Faschisierung und Arbeitsdiktatur, der Atomkrieg und der Ökokollaps. Gebildete Feiglinge und andere Heuchler versichern uns im Gegenzug, wir könnten nicht mehr tun, als die bürgerlichen Freiheiten, einst errungen in Kämpfen der Arbeiterschaft, so lange wie möglich gegen Angriffe von oben zu verteidigen.


Fortschritt und Barbarei


Schon Antonio Gramsci weist darauf hin, dass eine widersprüchliche Gesellschaft wie die unsrige, eine auf das Wohl von Eigentum, Kapital und Macht bedachte, sich nur reproduzieren kann, wenn ihr eine Verankerung in der Alltagspraxis gelingt, sodass sie den meisten als natürlich, selbstverständlich und unentbehrlich erscheint im Sinne massentauglicher Vorstellungen vom guten Leben. Mit anderen Worten, das Falsche ist zum einzig Denkbaren geworden. Dermaßen verfilzt sind Fortschritt und Barbarei bereits, dass es hin und wieder den Anschein hat, nur eine vollkommene Verweigerung oder gewaltsame Zertrümmerung des bestehenden Gesellschaftssystems könnte den wünschenswerten Einschnitt in diese zivilisatorische Fehlentwicklung zeitigen. Die Welt steht am eigenen Abgrund, doch unser Lustprinzip, am feuchten Traum vom großen Geld teilzunehmen, fällt leider mehr ins Gewicht. Wie schwer die innere Korruption tatsächlich ist, lässt sich nur erahnen, nicht bestätigen. Wir werden noch Gelegenheit haben zu beobachten, wie gut es um die Ordnung steht, wenn die Stunde schlägt, in der wir uns für oder gegen sie entscheiden müssen...


Krisenkapitalismus wie immer


Die praktische Gewöhnung daran als gesellschaftliche Normalität kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es weiterhin eine Klassengesellschaft ist, in der wir leben, ein ungerechter ökonomischer Rahmen, in den wir eisern eingeschrieben sind, kurz, eine kannibalische Weltordnung, wie Jean Ziegler es ausdrückt, eine, die zeitlich, körperlich und geistig Menschenleben frisst, das Menschsein durch Ausbeutung, Widersinn und Krieg verhindert und die Umwelt als unseren einzigen Lebensraum nachhaltig zerstört. Denkgewohnheiten, die diese traurige Tatsache bagatellisieren, indem sie sie zum paranoischen Katastrophendiskurs abwerten, weisen sich selbst somit als Alibis unbelehrbarer Kollaborateure eines spätkapitalistischen Wahnsinns aus, dessen Ordnungssinn sehr einseitig ausfällt: Außer der staatlichen Verwaltung von Armut und Zeitraub und einer privatwirtschaftlichen Erzeugung von Schund und Müll wird wenig auf einen ordentlichen Lauf der Dinge geachtet. Im Triumph des Kapitals sind wir Fußnoten. Wir sind und haben uns unterworfen.

Jedem nicht vollends indoktrinierten Kind und Jugendlichen ist augenblicklich klar, dass unser Gesellschaftsmodell der Ungleichheit an allen Ecken und Enden kriselt und eingeholt wird von just jener Wirklichkeit, welche es selbst hervorgebracht hat. Seine vielfältigen Probleme sind verworrener, verwobener und globalisierter geworden. Die Krise als solche scheint das bestimmende Element dieses neuen, immer problematischeren Kapitalismus zu sein, der darin wiederum ganz alt aussieht: wie ein altbekanntes Sorgenkind, mit dem man in den wirklich wichtigen, grundlegenden Fragen nicht und nicht weiterkommt. Weder die Harmonisierung materieller Bedürfnisse hat er im Weltmaßstab erreicht, noch die Freiheit einer friedlichen Koexistenz und ungehinderten Migration. Im Gegenteil, der moderne Mensch lebt nicht nur in ständiger Angst vor dem Morgen, sondern auch in berechtigter Sorge im Jetzt. Die Menschheit ist quantitativ zu einer beachtlichen Größe angewachsen – und neben ihr auch die Konzentration des Eigentums in den Händen weniger. An den Schalthebeln der Macht sitzen in erster Linie gestaltlose Bürokraten als Butler des Kapitals und eitle Psychopathen als Götter der Willkür. Eigentlich müssten wir den Mut aufbringen, daraus Konsequenzen zu ziehen, wenn wir bedenken, wie sehr unser Wohlbefinden und unser zukünftiges Dasein von solchen Gestalten abhängt. Dabei wird schnell fraglich, ob wir es im Sinne einer Gegengewalt schaffen, uns dabei die Hände nicht schmutzig machen, auch den Unmenschen unter uns nicht wehzutun und kein Blut zu vergießen. Es wäre jedenfalls wünschenswert. Der einzige Unterschied zu dystopischen Science-Fiction-Filmen liegt darin, dass sich im Gegensatz zu uns und unserer Zeit dort ein organisierter Widerstand finden lässt.


Die neue, alte Wirklichkeit


Da wir die diktatorische Natur des Kapitals als eines Kommandos über fremde Arbeit und als einer unmittelbaren gesellschaftlichen Macht immer noch bestreiten oder bei Gelegenheit sogar in Schutz nehmen, wenn wir behaupten, man könnte Geld auch menschlicher einsetzen und zum Wohle der ungehörten Mehrheit nützen, da wir also diesen in der kapitalistischen Dynamik widerlegten Schwachsinn nicht selten selbst glauben, weil wir es glauben wollen oder keine andere Wahl haben, eben darum sind die imperialistischen Staaten, unter vorgehaltener Hand gehasst von aller Welt, dem unausweichlichen Untergang geweiht. Diese neue Ordnung, deren scheindemokratische Moral mittlerweile unglaubwürdig geworden ist, stellt klassenmäßig eine alte Unordnung dar. Willkommen in der neuen, alten Wirklichkeit!


Mladen Savić (* 1979 in Zagreb) ist ein österreichischer Schriftsteller und Philosoph. Autor von Gedichten und Essays. Zuletzt erschien sein Essayband "Narrenschiff auf großer Fahrt" (2020).

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