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Megamaschine: Wissenschaft und Technik als Ideologie

Updated: Sep 29, 2021

Jan David Zimmermann



Was ist eigentlich die "Megamaschine"?

Der Blog "Megamaschine" möchte sich begrifflich lose auf die Wissenschafts- und Technikkritik des US-amerikanischen Wissenschaftlers und Philosophen Lewis Mumford beziehen, der mit der Megamaschine ein durch Technologie, Wissenschaft und Industrie hervorgerufenes gesellschaftliches System bezeichnet, das den Menschen funktionalisiert und ihm eine nachhaltige und selbstbestimmte Lebensweise erschwert oder diese verhindert.[1] Dabei ist die Megamaschine eine Entwicklung, die mit der industriellen Revolution begann und – so Mumford – den Werkzeuggebrauch des Menschen in seinem anthropologischen Selbstverständnis maßlos überbewertete.


Die Idee der Megamaschine ist aber bei Mumford nicht ein Phänomen in Bezug auf einen Einzelstaat, sondern bezeichnet die schrittweise historische Entwicklung der Welt hin zu einem (gewissermaßen) zentralistischen (und gleichzeitig globalistischen) Welt-Gebilde, das die Gesellschaft(en) durchtechnisiert.

Mit dieser Technisierung einher geht ein mechanistisches und von Technokratie und Fortschrittsglauben geprägtes Welt- und Menschenbild, genährt von neoliberal-kapitalistischen Wirtschaftssystemen und deren ökonomischen Zwängen. Mit der Ökonomisierung des Medizinsystems und der in den letzten Jahrzehnten zunehmenden, unhinterfragten Digitalisierung (und Automatisierung) der gesellschaftlichen Teilsysteme sowie den Monopolstellungen digitaler Tech-Konzerne wirken Mumfords Beschreibungen aus dem Jahr 1967 hochaktuell. So wie ich an anderen Beispielen noch zeigen werde, war das Ende der 1960er Jahre gewissermaßen die Hochzeit technikkritischer Auseinandersetzungen, die jedoch in ihrer Klarheit und Schärfe in den Jahrzehnten danach nicht mehr auftauchten.


In einer Gegenwart, in der die Kritik an der Herrschaft des Digitalen automatisch mit Kulturpessimismus assoziiert wird, erscheint es daher umso notwendiger, dass Positionen gehört werden, die eine Reflexion über den Weitergang solcher fragwürdigen Entwicklungen einfordern und – milde ausgedrückt – zumindest gelegentlich die Frage nach dem Sinn und Unsinn des Digitalen stellen dürfen, ohne gleich mit einer Zurück-zur-Natur-Verzichtsethik in Verbindung gebracht zu werden. Ein solcher Rückzug in die Natur kann allein deswegen schon nicht ernsthaft propagiert werden, weil der hier zu lesende Blog ja online und nicht auf Papier erschienen ist. Man ist also auch als Technikkritiker auf die Technik angewiesen und muss mit diesem Umstand leben lernen. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht gleichzeitig Probleme aufgezeigt werden können, die ganz klar mit dem Technischen zusammenhängen. Es erscheint hingegen als religiöses Überbleibsel, dass man immer nur bejahend dasjenige beweihräuchern muss, in das man selbst hineinsozialisiert ist; der Künstler muss ausnahmslos die Kunst lieben, der Wissenschaftler die Wissenschaft, der Techniker die Technik. Ich sehe es jedoch anders: Gerade, weil man die eigene Sozialisation so genau kennt, kann man die jeweiligen Systeme kritisch untersuchen und Selbstbeobachtung betreiben. Und Wissenschaft und Technik (aber auch die Kunst) sollten dies im Besonderen tun, denn ihre Aufgabe ist das Forschen, das Hinsehen, das Reflektieren. Aber durch die Reglementierungen und Institutionalisierungen haben die Wissenschaften auf Universitäten und Akademien vermutlich zu einem Großteil vergessen, was es heißt, wirklich zu forschen. Dennoch kann es grundsätzlich niemals absurd sein, wissenschaftliche Bildung erfahren zu haben und zugleich die Wissenschaft zu kritisieren so wie man auch Philosoph sein kann und die Philosophie, nein, noch besser: die Philosophen kritisiert. In dieser Weise hat es auch Mumford betrieben.


Wissenschaft und Technik als Ideologie


Ein wesentlicher Baustein, um das Konzept der Megamaschine zu begreifen ist der folgende: Wissenschaft und Technik sind die benötigten Leitideologien in dieser Entwicklungstendenz. Aber wie wurden sie zu diesen Leitideologien? Dafür muss man in der Geschichte weiter zurückgehen.

In den letzten zwei Jahrhunderten wurden - salopp formuliert - die klassischen Religionen mit ihrer ehemaligen Vormachtstellung zur ideologischen Welterklärung in den Hintergrund gedrängt und seither haben sich die Wissenschaften und damit die Vorstellung von "der" Wissenschaft (=Wissenschaftlichkeit) in weiten Teilen der westlichen Welt als Grundkonsens verbreitet. Wissenschaft gilt als gut, richtig und erkenntnisgeleitet, den Wissenschaftlern schenkt man Glauben und schreibt ihnen eine Autorität zu, die früher nur Priester innehatten.

Viele Vertreter der Aufklärung haben (durchaus nachvollziehbar) seit dem 18. Jahrhundert mit ihrer Forderung nach Rationalismus und Objektivität versucht, Aberglaube und religiösen Dogmatismus zu beseitigen und ohne Frage sind viele medizinische und technologische Errungenschaften – ebenso wie die Etablierung moderner Staatsformen – für Wohlstand, Gesundheit und Fortschritt verantwortlich. Aber wer sich mit den Wissenschaften als soziales, politisches (und schließlich auch: wirtschaftliches) System beschäftigt und sie im historischen Kontext betrachtet, der kommt nicht umhin, die Kehrseite(n) zu erkennen, die mit dem Wissenschaftlichen zusammenhängen: Autoritarismus, Obrigkeitshörigkeit, Konformismus, Ausbeutung, Kolonialismus, Imperialismus, Zerstörung, Gewalt, Vernichtung. Theoretiker und Philosophen wie Jürgen Habermas oder Herbert Marcuse, aber auch Literaten und Intellektuelle haben die dystopischen Züge der Wissenschaft vielfach analysiert und beschrieben. Gerade nach den Schrecken der Weltkriege, nach dem Einsatz von Giftgas, der Entwicklung der Atombombe, dem massenweisen Transport von Menschen durch ein ausgeklügeltes Bahnnetz und der Ermordung ebendieser Menschen im Holocaust-System der Konzentrationslager war nach 1945 die Zerstörungskraft von Wissenschaft und Technologie (als Ideologie) mehr als evident und jene Philosophen und Intellektuellen, die den Zweiten oder gar beide Weltkriege miterlebt hatten, rückten ebendiese Zerstörungskraft in den Fokus ihrer sozialkritischen Betrachtungen und Reflexionen. Für sie war klar, dass die Wissenschaft als Herrschaftsmittel eine gefährliche Ideologie zur Durchsetzung des Grauens unter dem Deckmantel des Notwendigen und Rationalen war.

Wenn man die Zerstörungskraft des Wissenschaftlich-Technischen betrachtet, richtet sich diese in erster Linie gegen die Natur und anschließend gegen den Menschen selbst als Mittel der Herrschaft.

Der Philosoph Herbert Marcuse beschreibt die Prinzipien moderner Wissenschaft in seinem Werk "Der eindimensionale Mensch"(1964) unmissverständlich folgendermaßen:

"Die wissenschaftliche Methode, die zur stets wirksamer werdenden Naturbeherrschung führte, lieferte dann auch die reinen Begriffe wie die Instrumente zur stets wirksamer werdenden Herrschaft des Menschen über den Menschen vermittels der Naturbeherrschung. […] Heute verewigt und erweitert sich die Herrschaft nicht nur vermittels der Technologie, sondern als Technologie, und diese liefert der expansiven politischen Macht, die alle Kulturbereiche in sich aufnimmt, die große Legitimation."[2]

Dabei bezeichnet Marcuse jenes Vernunftprinzip, welches in der wissenschaftlichen Methode zum Einsatz kommt als technische Vernunft, ein Begriff, der sich einerseits auf Max Horkheimers Begriff der instrumentellen Vernunft und andererseits auf Max Webers Begriff der Zweckrationalität bzw. Rationalisierung bezieht. Die technische Vernunft der modernen Wissenschaft(en) vollzieht sich bei Weber/Marcuse durch Kontrolle und menschliche Beherrschung der Natur, damit aber eben auch gleichzeitig mittels Herrschaft des Menschen über den Menschen und sorgt so für große Unfreiheit, obwohl Wissenschaft und Technik sich als frei und unabhängig gerieren. Marcuse schreibt weiters:


"In diesem Universum liefert die Technologie auch die große Rationalisierung der Unfreiheit des Menschen und beweist die ‘technische’ Unmöglichkeit, autonom zu sein, sein Leben selbst zu bestimmen. Denn diese Unfreiheit erscheint weder als irrational noch als politisch, sondern vielmehr als Unterwerfung unter den technischen Apparat, der die Bequemlichkeiten des Lebens erweitert und die Arbeitsproduktivität erhöht."[3]

Auf Marcuses Ausführungen bezieht sich auch sein philosophischer Schüler Jürgen Habermas. Habermas beschreibt in seinem Aufsatz „Technik und Wissenschaft als Ideologie“ (1968) wie die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft durch den Spätkapitalismus vorangetrieben wurde. Der dabei ideologisch propagierte technische sowie wissenschaftliche Fortschritt steuere jedoch nach Habermas auf ein Ziel zu, das niemanden mehr zugänglich ist, wobei auch die Lösung technischer Aufgaben nicht auf Diskussionen in der Öffentlichkeit angewiesen sei.[4]


Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies, dass auch die Mitsprache der Öffentlichkeit am Technischen nicht mehr oder kaum vollzogen wird und das Technische in seiner Durchsetzung eine Eigenständigkeit bekommt, die sich von demokratischen Prozessen abkoppelt. Eine Analogie lässt sich leicht hinsichtlich der Digitalisierung oder den Fragen Künstlicher Intelligenz (KI) herstellen: Welche Daten am Ende in der Verwaltung, in den Serverfarmen elektronisch gespeichert, verknüpft und algorithmisch angeordnet werden, entzieht sich der breiten Öffentlichkeit, ja, mitunter gar den Nutzern (und Erzeugern) des Technischen selbst.


Viele dieser Phänomene hat Mumford in seinem Buch über den Mythos der Maschine beeindruckend vorweggenommen. Und gerade das Präfix „mega“ erscheint dabei adäquat die menschlich-technische Selbstüberschätzung zu beschreiben.



Fußnoten

[1] Vgl. Lewis Mumford: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. S. Fischer Verlag 1980.

[2] Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Luchterhand 1967, S.89.

[3] Marcuse 1967, S.89.

[4] Jürgen Habermas: “Technik und Wissenschaft als ‘Ideologie’” in: Technik und Wissenschaft als ‘Ideologie’. Suhrkamp 1968, S.48-103, hier: S.78.

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