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Brave New Words: “Neue Normalität” und “Vernunft” als Gehorsam in techno-medialen Corona-Diskursen.

Rebecca Mossop & Jan David Zimmermann



Vorbemerkung


Dieser Text entstand 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie. Er ist als eine Aufforderung einer kritischen Auseinandersetzung mit den Framing-Konzepten von Medien, Politik und Wissenschaften zu verstehen. Wie gerade in global aktueller Lage zu erfahren, sind es genau die festgefahrenen Framings, die eine nüchterne und pragmatische Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung für Menschen in der Pandemie erschweren. Es sind die kontradiktorischen Signale, die gerade in Österreich für verhärtete Fronten statt einer Reflexion über Rechte und Pflichten im Verhältnis Staat und Bürger gesorgt haben und uns jetzt in eine unmögliche Lage gebracht haben. Dieser Text soll die Kontradiktionen im sprachlichen und praktischen Gebrauch dieses Diskurses/der Diskurse aufzeigen und soll nicht für ein Pro oder Kontra jedweder politischer oder ideologischer Lager genutzt werden. Er soll zum Reden und zum Verstehen anregen, zwischen Menschen, Wissenschaft, Politik und Medien.



Einleitendes


Kant wäre erstaunt. Denn was sich während des Corona-Lockdowns gezeigt hat und was bis heute in den (staatsnahen) medialen Diskursen Österreichs und Deutschlands rund um Corona anhält ist eine Semantik der Begriffe “Vernunft” und “Vernünftig-Sein”, von dem Dispositiv[1] der “neuen Normalität” gerahmt, die wie folgt definiert und von der Kant'schen Vernunft weit entfernt ist: Vernünftig war und ist im Kontext von Corona, sich den Maßnahmen (oder “Empfehlungen”) der Regierung zu beugen, vernünftig ist, der Regierung zu vertrauen, vernünftig ist letztlich, der Regierung (auch weiterhin) zu gehorchen. Vater Staat geht also wieder ganz in seiner patriarchalen Rolle auf, die Freud ihm bereits im letzten Jahrhundert attestiert hat: Seid gehorsam, dann seid ihr meine vernünftigen Kinder. Wer sich widersetzt, wird mit der Plakette der “Unvernunft” versehen, wie es etwa im Hinblick auf Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen in der FAZ vom 10.05.2020 zu lesen war. Dort schrieb der Autor Carsten Knop: “Diejenigen aber, die sich über die unerlässlichen Abstandsregeln hinwegsetzen, gleichgültig, ob auf Demonstrationen, im Park oder auf einer Feier, gefährden andere.” [2] In diesen Tenor stimmten viele andere ein, die die Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstranten als Aluhut- Träger, Wirrköpfe, Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme beschrieben und den Protest somit generell de-legitimierten. Kritische Stimmen werden also nicht nur zum Nachdenken in die klinisch-rein desinfizierte Ecke geschickt und ihnen wird nicht bloß suggeriert, sie sollen sich gemäß pseudokantscher Manier wieder ihrer Vernunft besinnen, sondern ihnen wird gar geistige Umnachtung attestiert, vor allem wenn in den lauen Sommernächten die Abstandsregeln zu Gunsten dionysischer Exzesse[3] fallen; – Freud hätte sich gefreut.


Nicht einmal einen Monat später fanden in ganz Europa Demonstrationen statt, an denen tausende Menschen dicht gedrängt teilnahmen (teils mit, teils ohne Maske) und im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung auf die Straße gingen, rund 50.000 allein in Wien. Eine Nichteinhaltung der Abstandsregeln war laut Gerhard Pürstel (Wiens Polizeipräsident) kein Grund die Demonstration aufzulösen.[4] Plötzlich war medial von Unvernunft im Falle der augenscheinlich richtigen Themen und Anliegen nicht mehr die Rede, auch Regierungsmitglieder sprachen sich für die Teilnahme an den Demonstrationen aus. In Österreich lobten gar der grüne Gesundheitsminister und stete Corona-Mahner Rudolf Anschober (Grüne), Stadtrat Peter Hacker (SPÖ) und Vizebürgermeisterin Birgit Hebein (Grüne) die große Beteiligung an der Demonstration, die in Wien am 04.06.2020 stattfand[5], inklusive der zwei letztgenannten Politiker. Danach wurde in den Medien die Frage nach einem potenziellen Super-Spreading-Event allerdings kaum gestellt[6] und medial auch nicht breit diskutiert.[7] Ungefähr zwei Monate später, am 01.08.2020, fanden in Berlin große Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen statt; sowohl in deutschen als auch in österreichischen Medien und auch auf Social-Media-Kanälen wurden alle Demonstranten erneut als “Covid-Idioten”, Neonazis, Verschwörungstheoretiker, Rechtsradikale oder prinzipielle Gefährder diffamiert.[8]

Differenzierte Auseinandersetzungen mit der Thematik und den Demonstranten waren kaum präsent.[9] Und es ging noch weiter: Die Demonstrationen gegen die Pandemiemaßnahmen in Deutschland[10] wurden letztlich genau aus dem Grund der Nichteinhaltung der Abstandsregelungen und Hygienemaßnahmen aufgelöst, auf die während der Black-Lives-Matter- Demos mit einem Augenzwinkern reagiert wurde. Ungeachtet dessen, wie inhaltlich politisch die jeweiligen Demonstrationen aufgeladen waren, ist es unumgänglich zu bemerken, dass die Semantik der Vernunft hier augenscheinlich nicht mehr im demokratischen Kollektiv oder im einzelnen Subjekt verankert ist. Wie geht dies alles zusammen? Dieser Aufsatz ist der unvernünftige Versuch einer Entschlüsselung.


Neue Normalität enlighted oder der Aufstieg der technischen Vernunft


Während man den Ruf nach Vernunft prinzipiell auch umdrehen könnte, um die alarmistische und Angst verbreitende Rhetorik der Bundesregierung in Österreich zu kritisieren und das Zahlenmaterial rund um Corona tatsächlich, sachlich (und grundsätzlich) zu analysieren[11] und welt- oder europaweit zu standardisieren, so überwiegt dennoch in den größten österreichischen Medien (in diesem Fall Kurier[12] und Kronenzeitung[13], aber auch etwa auf der Seite des ORF[14]) der deklarative Sprechakt[15] eines Setzens von Vernunft als dem Folgen von Verhaltensregeln und Anordnungen, kurz: von Vernunft als Gehorsam.

Was sich hier zeigt ist bei genauerer Betrachtung eine Verzerrung dessen, was ursprünglich (philosophisch) mit dem Begriff der Vernunft gemeint ist. Nämlich ein (aufklärerisches) oberstes Erkenntnisprinzip, nicht eine Anleitung zur Folgsamkeit.[16] Aber woher kommt diese „neue“ Semantik des Vernunft-Begriffs und ist sie wirklich neu? Oder haben wir hier ein Phänomen vor uns, das eine längere (historische) Kontinuität aufweist?

Die Etablierung dieser Art von Diskursen und Narrativen (und damit: Sprachhandlungen in weitester Form) erscheinen les-, deut- und somit verstehbarer, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in unserer säkularen Gesellschaft die Verwissenschaftlichung des gesamten Lebens eine signifikante ( – no pun intended) Rolle spielt, denn wurde in den letzten Monaten nicht mehr denn je auf die gesellschaftliche Relevanz von Wissenschaft Bezug genommen? Warten wir nicht alle auf die uns endlich erlösende Impfung, den Heilsbringer gegen das/den Teufelsvirus?


Neben dieser regelrecht eschatologischen Deutung einer Vakzine zeigt sich eines mit aller Überdeutlichkeit; für das Thema Corona ist gerade die Verbindung von Wissenschaft und Politik unter Berücksichtigung der medialen Berichterstattung von großer Bedeutung. Insbesondere die Zeit des Lockdowns war von einer massiven Wissenschaftsgläubigkeit geprägt, wobei die in Österreich vorherrschende Intransparenz der wissenschaftlichen Berater der Regierung immerhin teilweise medial kritisiert wurde.[17] Wissenschaft und Politik, zeigt sich nun in aller Klarheit, können massive Auswirkungen auf unser Leben haben. Eine an sich naheliegende und banale Einsicht, deren Tragweite aber erst durch Corona wieder in unser Bewusstsein gerückt ist.

Was in der Berichterstattung bis jetzt vollkommen gefehlt hat ist jedoch eine grundsätzliche (und umfassende) Kritik der Wissenschaft als eine Form der Ideologie und eine Form des Politischen, das heißt im Klartext: Wissenschaft als eine Form von Herrschaft. Hier kommen die Ansätze von Jürgen Habermas und Herbert Marcuse ins Spiel, die wir für unsere Analyse heranziehen wollen.


Erstaunliche Aktualität hinsichtlich der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage finden dabei im Detail die sozialphilosophischen Untersuchungen von Habermas in seinem 1968 veröffentlichten Text “Technik und Wissenschaft als ‘Ideologie’”. Habermas zeigt darin ganz grundsätzlich, wie die Verwissenschaftlichung der Technik durch den Spätkapitalismus vorangetrieben wurde, wobei der technische (und wissenschaftliche) Fortschritt laut Habermas dabei auf ein Ziel zusteuere, das niemanden mehr zugänglich sei und insbesondere nicht der breiten Öffentlichkeit. Habermas formuliert: “Die Lösung technischer Aufgaben ist auf öffentliche Diskussion nicht angewiesen.”[18]

Für Habermas entscheidend ist dabei der Verweis auf das von Max Weber geprägte Prinzip der Rationalisierung, ”um die Form der kapitalistischen Wirtschaftstätigkeit, des bürgerlichen Privatrechtsverkehrs und der bürokratischen Herrschaft zu bestimmen. Rationalisierung meint zunächst die Ausdehnung der gesellschaftlichen Bereiche, die Maßstäben rationaler Entscheidung unterworfen werden.”[19] Wichtig ist dabei zu betonen, dass ”Rationalisierung“ eben vom Konzept der Rationalität abweicht; Rationalisierung meint Planung und Organisation und die fortschreitende Rationalisierung innerhalb der Gesellschaft ist dabei für Habermas Ausdruck einer Institutionalisierung des wissenschaftlichen (und damit technischen) Fortschritts.[20] Bei Habermas ist die Frage der Technik stark mit der Frage der menschlichen (Un-)Freiheit verbunden. Auch Herbert Marcuse beschreibt dieses Spannungsverhältnis und sagt diesbezüglich:

In diesem Universum liefert die Technologie auch die große Rationalisierung der Unfreiheit des Menschen und beweist die ‘technische’ Unmöglichkeit, autonom zu sein, sein Leben selbst zu bestimmen. Denn diese Unfreiheit erscheint weder als irrational noch als politisch, sondern vielmehr als Unterwerfung unter den technischen Apparat, der die Bequemlichkeiten des Lebens erweitert und die Arbeitsproduktivität erhöht.[21]

Marcuse formuliert diese Form der Kontrolle und Macht in “Der eindimensionale Mensch” (1967) als ein Prinzip, das der Wissenschaft grundsätzlich, also wesentlich, zukommt. Er bespricht dabei auch den Begriff der technischen Vernunft bei Max Weber, der Wissenschaftlichkeit an sich thematisiert. Diese technische Vernunft der modernen Wissenschaft(en) vollzieht sich dabei bei Weber/Marcuse im und durch das Feld (produktiver) Kontrolle und menschlicher Beherrschung der Natur und damit aber auch gleichzeitig mittels Herrschaft des Menschen über den Menschen:


Die wissenschaftliche Methode, die zur stets wirksamer werdenden Naturbeherrschung führte, lieferte dann auch die reinen Begriffe wie die Instrumente zur stets wirksamer werdenden Herrschaft des Menschen über den Menschen vermittels der Naturbeherrschung. […] Heute verewigt und erweitert sich die Herrschaft nicht nur vermittels der Technologie, sondern als Technologie, und diese liefert der expansiven politischen Macht, die alle Kulturbereiche in sich aufnimmt, die große Legitimation.[22]

Nehmen wir Habermas und Marcuse ernst, so sehen wir hinsichtlich Corona: Nicht das Prinzip der Rationalität herrscht hier vor, sondern die Durchsetzung einer Planung und Organisation (in Schach halten, ruhig halten, gehorsam halten) (vermeintlich oder tatsächlich) gefährdeter Menschen. Was sich hier auch zeigt ist das Durchsetzen von Herrschaft bei gleichzeitigem Versuch der Verschleierung dieses Vorgangs. Das Virus fordert die Maßnahmen, der vom Staat organisierte (= vernünftige) Mensch hat sich dem zu fügen. Wir können gar nicht anders; die Lage der Infizierten fordert eindringlich diese notwendigen Handlungen. Die Naturkatastrophe Corona, wie eine biblische Plage über uns hereingebrochen, entkoppelt Wissenschaft und Politik voneinander, obwohl beide in der Realität ständig verwoben sind. So wie bei Habermas und Marcuse besprochen, ist das Wissenschaftliche (und damit Technische und auch Medizinische) ein Politikum und somit Herrschaftsmittel, das jedoch seine Politizität verschweigt. Grund dafür ist auch, dass die Wissenschaft und die Technik eben gerade nicht unschuldig und autonom sind, sondern sich immer schon im Zentrum der Macht befinden, die Wissenschaft aber behauptet, von einer anderen systemischen Leitdifferenz geprägt zu sein: Nämlich von jener zwischen Wahrheit und Falschheit. Indem die Wissenschaft behauptet, immer nur auf der Suche nach der Wahrheit zu sein, verschleiert sie aber nur erneut ihre Politizität. Denn in Wirklichkeit ist sie von derselben Leitdifferenz wie die Politik geprägt, nämlich von der zwischen Macht und Nicht-Macht. So wie die Politik, will auch die Wissenschaft immer am Pol der Macht sein, denn dies bedeutet finanzielle, symbolische und auch rhetorische Ressourcen (ergo: Bedeutung, Reputation, Prestige und Geld), die der Wissenschaft durch Politik, Medien und Gesellschaft zugesprochen werden (und das insbesondere in Krisenzeiten – wird sie ja sonst eher ausgehungert und kleingehalten). Die Legitimation der Wissenschaft wird durch die technische, nunmehr vielleicht gar medizintechnische Vernunft und durch Formen der Rationalisierung vorangetrieben, die wiederum politische Instrumentarien der Macht und Kontrolle sind. Und wer die nun medizintechnische Vernunft in Frage stellt, wird früher oder später, aber eher früher in den Narrenturm verfrachtet, oder bekommt medial einen Aluhut verpasst.

Ergänzend zur Habermas‘, Marcuses und Webers systemischen Vernunftbeobachtungen, ist es wichtig auch auf das Offensichtliche hinzuweisen, das uns in diesen Zeiten praktisch dazu anhält vernünftig zu sein. Am Anfang war das Wort oder in sprachphilosophischer Manier: Alles beginnt mit der Sprache und soziale Tatsachen werden insbesondere durch deklarative Sprechakte geschaffen.[23]

So wie wissenschaftliche Fakten geschrieben werden, werden Gesetze niedergeschrieben und uns Rationalität oder Vernunft vorgeschrieben bzw. deklariert. Durch die Politik wird uns medial mitgeteilt was vernünftig ist, was eigenverantwortlich ist und was klug. Die Sprechakttheorie geht davon aus, dass es ohne deklarative Sprechakte keine sozialen bzw. institutionellen Tatsachen in der Welt gäbe. Es gäbe weder Geld, Cocktail- Parties, Reisepässe oder Pandemien und: Es gäbe keine (politischen) Institutionen, ergo keine Institutionalisierung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts und keinen Vernunftbegriff bzw. keine soziale Tatsache der Klugheit, der Vernunft oder der Eigenverantwortung.

Vernunft hat also viele Facetten und ist vor allem historisch variabel: Ist es heute vernünftig auf Vater Staat oder die Twitter-Gebote diverser Regierungsoberhäupter zu hören, so sind wir vom kant‘schen Vernunftbegriff mittlerweile weiter entfernt als so manch guter, vernünftiger Bürger der Gegenwart glauben möchte.


Kant hatte uns in der Dämmerung der 1700er Jahre viel zu träumen gegeben: Einerseits, dass wir echte Subjekte sind und dass es höchstpersönlich an uns liegt, aus dem jahrhundertelangen Dornröschenschlaf der selbstverschuldeten Unmündigkeit aufzuwachen. Ganz alleine, ohne wachgeküsst zu werden. Wir müssen nicht auf jemanden warten, der für uns handelt, denkt und lenkt, sondern wir vermögen es uns selbst zum Denken, Lenken und Handeln anzuregen und aufzuraffen.

Was wie ein Gebot klingt, wäre aber und war eigentlich ein imperativer Schlüssel, der eine Tür in eine Welt aufzuschließen vermag, in der Freuds patriarchaler Vater Staat nicht tonangebend neben der syntaktischen Hülle die semantische Tiefe der Vernunftbegriffe deklariert. Wo sich also der ursprünglich kant‘sche Vernunftbegriff nicht ad absurdum führt und in einer Gehorsamkeits-Semantik mündet.

Gegenwärtig werden nämlich ganz im Sinne einer sprechakttheoretischen[24] Nonchalance, die vernünftigen Imperative der neuen Normalität semantisch hoch prekär aufgeladen: Sei vernünftig, reise nicht über Grenzen, die von uns (wirtschaftlich vertretbar) geschlossen bleiben können! Sei vernünftig, sei ”political correct“ (aber stell nur Themen in Frage, die keine systemrelevanten Änderungen nach sich ziehen)! Sei vernünftig, lass dich testen (auf eigene Kosten, auch wenn der Test eine relativ hohe Fehlerquote aufweist)! Sei vernünftig, begib dich in Quarantäne (und fahr mit dem Taxi oder den öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Umwege in deine Wohnung)! Sei vernünftig, höre einfach auf uns, denn wir wissen (nicht) was wir tun! Sei vernünftig, lebe in der neuen Normalität!


Deklarieren geht also über studieren, so die Kurz-Formel: Worte sind hier eben nicht nur Worte. Als Wordings sind sie weise gewählt. Wortkonstrukte wie die neue Normalität werden nicht willkürlich ausgewählt, im Gegenteil, sie werden sorgfältig durchdacht, bevor sie auf dem Boden gesellschaftlicher Strukturen gepflanzt werden. Im Vereinigten Königreich finden wir zum Beispiel das Behavioural Insights Team, das die Kunstfertigkeit effektiver Kommunikation in einer Krise beschreibt und betreibt[25] ,aber auch in Österreich wird solcherlei durch Think Tanks[26] geleistet. Mit Worten werden also Geschäfte gemacht und ganze Wortpakete werden geschnürt, um uns von einem Diskursraum in den nächsten zu führen und uns den Übergang vom prä-coronalen Diskurs in den Krisenraum und dann wieder in die neue Normalität zu erleichtern. Das Dispositiv der (neuen) Normalität muss als institutionelle Realität[27] akzeptiert werden und stellt so nicht nur eine sprachliche Floskel dar, sondern etwas, an das wir glauben und gemäß dem wir handeln: Haben wir vor Kopernikus an einen Geozentrismus geglaubt und demgemäß gehandelt, so glauben wir noch heute und richten unsere Wissenschaften nach einer heliozentrischen Weltauffassung aus. Was vor Kopernikus´ Einsichten der normale Standard war, wurde erst durch langwierige Prozesse als abnormal deklariert und akzeptiert. So wie Kopernikus sich als Paradebeispiel eines Umbruchs eignet, eignet sich auch das Neu-Normale als deklarativer Sprechakt wunderbar als Beispiel, die mit ihm einhergehenden Normen und den impliziten Vernunftbegriff zu veranschaulichen:

Was in gewissem Sinne an den Orwell‘schen Neusprech erinnert, ist faktisch gar nicht so weit von der literarischen Fassung entfernt wie man intuitiv annehmen möchte. Denken wir zunächst an die Maske, die noch vor wenigen Monaten in Form des Niqab in höchstem Maße im eurozentrischen Raum politisiert wurde, wird uns klar, auf wie vielen Ebenen uns das Neu-Normale eigentlich konfrontiert. Dieses Neu-Normale ist nun nicht nur deklarierte Realität, sondern vor allem auch performativ – woraufhin der Begriff 'Sprechakt‘ an sich schon verweist. Bemerkenswert ist, dass die Neustrukturierung durch das Neu-Normale im Grunde ein alter Hut ist, in diesem Fall eine alte Maske, denken wir nur an die Studien von Frantz Fanon zum Kolonialismus[28]: Handelte es sich bei Fanon noch um einen Kampf der Kulturen, in deren Zentrum – wie auch heute oft – der Schleier der Frau stand, (“With the veil things become well-defined and ordered“[29]) handelt es sich heute bei der Maske auch um eine Etikettierung, die nicht unbedingt dem kulturellen Kampf der Nationalstaaten oder der Geschlechter dient, aber der Verhandlung von Vater Staat und den normalen Bürgern über ihre Grenzen, ihren politischen Einfluss, ihre Rechte und ihre Pflichten und eben darüber, was denn nun eigentlich vernünftig ist. Pointiert ist in paternalistischer Manier also die Maske so zu deuten, dass nur wer sie trägt ein vernünftiger, neunormaler Bürger ist.


Grundsätzlich ist die krisenpräventorische Maßnahme natürlich im Falle von Pandemien zu begrüßen – würde sie nicht im konkreten Fall auch auf das Wortpaket der neuen Normalität und all ihrer neuen Normative mehr als deutlich verweisen und wäre sie nicht am Anfang der Pandemie politisch, medial und medizinisch eher als Übel, denn als Heilbringer deklariert worden.[30] Nicht unbedingt evidenzbasiert verordnet, repräsentiert sie die materielle Ausprägung eines deklarativen Sprechaktes, der die neue Normalität als institutionelle Realität in unserer gegenwärtigen Gesellschaft verankert.


Die Maske ist einerseits eine Etikettierung, die auf materieller Ebene daran erinnern soll, dass wir uns nicht nur semantisch, sondern auch faktisch auf neuem, normativem Boden befinden und andererseits eine Verschleierung, die unseren Mund und unsere Nase davor schützt, sich zu tief in die blitzartig verabschiedeten neuen gesetzlichen Pandemierahmenbedingungen einzumischen und am Diskurs überhaupt teilzunehmen. Die so getragen attestierte Neu-Normalität, geht über die losen Ränder der Masken hinaus: Vernünftigerweise sollen wir nämlich nicht nur die Maske mit Fassung tragen, sondern soll uns der Mund-Nasen-Schutz auch davor schützen, Verfassungsänderungen zu kritisieren. Diese Kritik wäre politisch nicht korrekt, also unvernünftig – zumindest, wenn Vater Staat das in coronalen Zeiten so sieht.



Nach diesen Skizzierungen, was Vernunft in Krisen- und Nichtkrisenzeiten alles bedeuten kann, kann man zusammenfassend sagen, dass sich an all dem zeigt – oder heideggerisch formuliert – “entbirgt”, welches wissenschaftlich-politische Potential an Kontrolle durch Argumentationen der Vernunft möglich ist: Schier endlos kann der sich etablierende Gesundheits-Staat in unser Leben eingreifen, weil er es nur gut mit uns meint. Mit scheinbaren Formen des Widerstands – so wie bei den Black- Lives-Matter-Massendemonstrationen – besänftigt er die Menschen und gibt ihnen identitätspolitische Brot und Spiele, die von den eigentlichen (verfassungsrechtlichen und wirtschaftlichen) Problemen und Schieflagen ablenken können. Befeuert wird das Ganze von sozialen und öffentlich-rechtlichen Medien, die die sprachlichen Setzungen und Weisungen immer und immer wieder reproduzieren. Auch die Maskierung ist eigentlich bloß Etikettierung, die gleichzeitig als Nebeneffekt das nun so gefürchtete Schnupfen-Risiko senkt:


Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,
auf daß er sich ein Opfer fasse
– und stürzt alsbald mit großem Grimm
auf einen Menschen namens Schrimm.
Paul Schrimm erwidert prompt 'Pitschü!’
und hat ihn drauf bis Montag früh.[31]

Die Frage, ob man überhaupt vernünftig sein kann, wenn man unmündig gemacht wird, verdampft im Äther des Gehorsams oder in Schrimms ungesundem 'Pitschü’. Hätte er doch vernünftigerweise die Maske getragen. Gehorsam kaufen wir EU- genormte Bananen, die mit rechtlich nicht-in-Frage- zu- stellenden Glyphosatmengen in Kontakt gekommen ist, die unserer Gesundheit (Dank der geringen Menge an Glyphosat) zum perfekten Instagram-Body verhelfen soll. Obst ist gesund. Wir leben gesund, denn wir sind ja vernünftig. Die medizintechnische und technisierte Vernunft weiß eben besser, was gut für uns ist, das sagen auch die Medien. Wer braucht schon eine Kritik der reinen Vernunft, wenn einem vordeklariert, vorgelebt und vorgesprochen wird, was denn nun gebotsweise Vernunft bedeutet.

Während Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit und in das Prekariat schlittern, sehen die bürgerlich Privilegierten eine Chance auf solipsistische Selbstfindung im digitalen Biedermeier; für sie sind die Stilllegungen, die Schließungen, das Entfernen von Dynamik und Mobilität teilweise als Bereicherung erlebt worden. Vernunft und Vernunftkonzepte sind also nicht nur theoretische Hirngespinste mit denen man sich spätestens im Gymnasium als philosophisches Ad- On mit der französischen Revolution auseinandersetzt, sie haben faktische Auswirkungen auf unseren praktischen Lebensalltag und lassen die Frage zu, ob vernünftigerweise eben manche doch gleicher sind als andere.


[1] Vgl. Foucault, Michel: Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere. Ein Gespräch mit Lucette Finas. In: Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Merve Verlag, Berlin: 1978, S.119. [2] Knop, Carsten: Demonstration der Unvernunft. 10.5.2020. In: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/proteste-gegen-corona-demonstration-der-unvernunft-16763410.html , (Zugriff: 20.08.2020, 22:09 Uhr). [3] o.V: Wiener feierten wilde Corona-Party am Donaukanal. 15.8.2020 In: https://www.heute.at/s/wiener-feierten-wilde-corona-party-am-donaukanal-100097155 , (Zugriff: 15.08. 2020, 15:30 Uhr). [4]O.V.: „Black Lives Matter“-Demo: Abstand kein Grund für Auflösung. 05.06.2020. In: https://orf.at/stories/3168409/ , (Zugriff: 15.08. 2020, 16.00 Uhr). [5]O.V: Drei Vorgaben für Großdemonstrationen. 08.06.2020.In: https://orf.at/stories/3168809/,(Zugriff: 22.08.2020, 11:16 Uhr). [6] Ausnahmen bilden vereinzelte Beiträge wie etwa jener von Christian Ortner in der „Presse“ vom 12.06.2020, vgl. Ortner, Christian: Black Lives Matter, aber die Gesundheit der Leute nicht? In: https://www.diepresse.com/5825001/black-lives-matter-aber-die-gesundheit-der-leute-hier-nicht, (Zugriff: 20.08.2020, 20:13 Uhr). [7]Vgl. o.V: Black Lives Matter: Demonstrieren trotz Viren. 09.06.2020. In: https://www.unipress.at/politik/demonstrieren-trotz-viren/, Zugriff: 20.08.2020. Auch wenn in diesem Artikel ein wenig sanfte Kritik durchscheint, dass Menschen dicht gedrängt demonstrieren, so werden am Ende des Beitrags die Demonstranten als Märtyrer stilisiert, die ihre Gesundheit für die Verbesserung der Lebensumstände nicht-privilegierter Menschen aufs Spiel setzen. [8] Vgl. o.V: Berliner Demo gegen Cov-Regeln gestoppt. 01.08.2020. In: https://orf.at/stories/3175874/ , (Zugriff: 02.08.2020, 21 Uhr). [9] Erfrischende Ausnahme bildet etwa der Artikel von Robert Treichel im Profil vom 08.08.2020, vgl. Treichel, Robert: Böse Demo? Gute Nachricht! In: https://www.profil.at/meinung/robert-treichler-boese-demo-gute-nachricht/400995026, (Zugriff: 20.08.2020, 20:36 Uhr). [10] O.V: Unverständnis für Demo gegen Corona-Maßnahmen. https://www.derstandard.at/story/2000119112086/unverstaendnis-fuer-demo-gegen-corona-massnahmen-in-berlin , (Zugriff: 15.08. 2020, 16.00 Uhr). [11] Am amtlichen Dashboard des Gesundheitsministeriums wird etwa immer noch nicht ersichtlich, ob Personen bloß positiv getestet waren, oder ob sie auch wirklich daran gestorben sind, vgl. Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz: Amtliches Dashboard COVID19 öffentlich zugängliche Informationen. In: https://info.gesundheitsministerium.at/dashboard_GenTod.html?l=de (Zugriff: 26.08.2020, 20:08 Uhr). Diese grundlegende Differenzierung wird übrigens weltweit kaum gemacht, weswegen im Eigentlichen die Frage der wirklich daran Gestorbenen im Dunklen bleibt. [12]Vgl. z.B. Auer, Konstantin: Mit der Polizei auf Corona-Kontrolle im Wiener Stadtpark. 20.03.2020. In: https://kurier.at/chronik/wien/mit-der-polizei-auf-corona-kontrolle-im-wiener-stadtpark/400788068, (Zugriff: 09.08.2020) [13] O.V: Corona: Experten-Sorge wegen sorgloser Menschen, 30.06.2020. In: https://www.krone.at/2182527, (Zugriff: 09.08.2020). [14] O.V.: CoV: Land appelliert an Vernunft. 15.03.2020. In: https://burgenland.orf.at/stories/3039127/, ((Zugriff: 09.08.2020). [15] Vgl. Searle, John: Wie wir die soziale Welt machen. Suhrkamp. Berlin: 2009, S.115. [16] Vgl. z.B.: Kants Vorrede In: Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft(1781, 1. Aufl.), Volltext auf: https://www.projekt-gutenberg.org/kant/krva/krva001.html , (Zugriff am 30.07.2020). [17]Vgl. Traxler, Tanja; Rennert, David; Taschwer, Klaus; Illetschko, Peter: Wissenschaftliche Corona-Beratung hinter verschlossenen Türen. 26.04.2020. In: https://www.derstandard.at/story/2000117097615/wissenschaftliche-corona-beratung-hinter-verschlossenen-tueren, (Zugriff: 02.08.2020). [18] Habermas, Jürgen: “Technik und Wissenschaft als ‘Ideologie’”. Suhrkamp. Frankfurt am Main: 1968, S.78. [19] Vgl. Habermas 1968, S.48. [20] Vgl. ebd. [21] Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Luchterhand: Neuwied und Berlin 1967, S.89. [22] Marcuse 1967, S.89. [23] Vgl. Searle 2009, S.115 ff. [24] Vgl. Searle, John: The Construction of Social Reality. Routledge: London 1995; Searle, John: Wie wir die soziale Welt machen. Suhrkamp: Berlin 2009; Smith, Barry: John Searle: From Speech Acts to Social Reality. Cambridge University Press: Cambridge 2003. [25] Vgl. https://www.bi.team , (Zugriff am 22.08.2020, 11:55 Uhr) [26] Vgl. https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/think-austria.html , (Zugriff am 22.08.2020, 12 Uhr) [27] Vgl. Searle 1995; Searle 2009; Smith, Barry, John Searle: From Speech Acts to Social Reality. Cambridge University Press: Cambridge 2003. [28]Vgl. Fanon, Frantz: A Dying Colonialism. Grove Press: New York 1967. [29] Fanon 1967, S.36. [30] Vgl. Z.B. o.V.: Das sagen Experten. Hilft ein Mundschutz gegen das Coronavirus? 29.1.2020. In: https://rp-online.de/panorama/ausland/coronavirus-schuetzt-ein-mundschutz-vor-der-ansteckung_aid-48628103 , (Zugriff: 22.8.2020,11:58 Uhr) Vgl. auch: o.V.: Coronavirus. Was ein Mundschutz bringt. 28.1.2020. In: https://www1.wdr.de/nachrichten/coronavirus-atemschutzmasken-tipps-100.html ,(Zugriff: 22.8.2020, 11:59 Uhr) [31] Morgenstern Christian; Knight, Max: Galgenlieder. Gallows Songs. R. Piper & Co. Verlag. München Zürich: 1983, S.21ff.

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1 Comment


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Dec 12, 2021

Gratuliere dir Jan, sehr umfangreich und fein recherchiert! Habe noch nicht alles gelesen, freue mich aber schon drauf.

Margit T.

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