Jan David Zimmermann
„Wäre die Spaltung der Gesellschaft wirklich etwas so Schlimmes? Sie würde ja nicht in der Mitte zerbrechen, sondern ziemlich weit rechts unten. Und so ein Blinddarm ist ja nicht im strengeren Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes.“[1] - Sarah Bosetti, deutsche Satirikerin und Autorin
Die Grenzen meiner Sprache
Bevor ich auf das unrühmliche Eingangszitat von Sarah Bosetti Bezug nehme, möchte ich doch einmal ganz grundsätzlich beginnen und mich erst im zweiten Abschnitt den sprachlichen Entgleisungen widmen.
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ schreibt Ludwig Wittgenstein in seinem philosophischen Hauptwerk, dem Tractatus logico-philosophicus.[2] Auch wenn seine philosophische Auffassung von Welt und Sprache sehr sprachzentriert ist und schließlich davon ausgeht, dass es genaugenommen kein Außerhalb der Sprache gibt, so steckt doch viel Wahrheit in diesem Satz; viele Menschen, die sich mit Sprache beschäftigen, versuchen der Macht und Bedeutung des Sprachlichen für die Konstruktion unserer Wirklichkeit auf den Grund zu gehen. Welt und Wortschatz: sie bedingen einander.
Haben wir es in den letzten zwei Jahren nicht gemerkt? Eine neue Krise bedeutet einen erneuerten Wortschatz, um sprachlich zu greifen, was sonst schwer zu fassen wäre. Plötzlich sind die wissenschaftlichen Begriffe wie „R-Wert“, „Inzidenz“, „evidenzbasiert“, „Vektorimpfstoff“, „Viruslast“ usw. usf. in unseren allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Neue Herausforderungen benötigen meist eine neue Sprache und eine neue Sprachverwendung. Um die Dinge beherrschbar zu halten, um die komplexen Inhalte und Ereignisse zu fassen. Leider hat sich jedoch innerhalb dieser Krisenzeit mehr und mehr eine Eskalation der Sprache hergestellt, die nicht für Komplexität, nicht für differenziertes Denken, nicht für Problemlösung steht. Es ist die Sprache der Diffamierung, des Hasses, der Verkürzung, der Schuldzuweisung. Es ist die Sprache hohler Phrasen und ständiger Wortwiederholungen, eine arme Sprache voller plumper und unreflektierter Worthülsen.
Eskalation und Begnadigung
Wie weit diese Eskalation bereits fortgeschritten ist, wurde mir auch an anderer Stelle bewusst.
Durch einen Beitrag zweier Polit-Kommentatoren, die auf ihrem YouTube-Channel 0punkt unter dem Titel „Alles Gute Österreich“ die gegenwärtige Politik und die mediale Berichterstattung ironisch-bissig kommentieren/analysieren, bin ich auf das ORF-Interview von Lou Lorenz-Dittelbacher mit dem Epidemiologen Gerald Gartlehner der Donauuniversität Krems vom 17.12.2021 gestoßen[3]. Die in diesem Interview vorkommende sprachliche Entgleisung ist das jüngste Beispiel eines unreflektierten bis zynischen Umgangs mit Sprache.
Die Kommentatoren von 0punkt weisen in ihrem Beitrag zurecht daraufhin, dass die im Interview auftauchende medial-politische Bezeichnung „Weihnachtsamnestie“ für die Tatsache, dass nun auch ungeimpfte Personen mit ihrer Familie Weihnachten feiern dürfen, eine Gleichsetzung Ungeimpfter mit Häftlingen bedeutet.[4] „Weihnachtsamnestie“ bedeutet eben ursprünglich nichts weniger als die frühzeitige Entlassung (also Begnadigung) von Häftlingen aus dem Gefängnis durch die Regierung rund um Weihnachten, ja, mitunter sogar der Entfall der Todesstrafe in Ländern, wo sie üblich ist. Das Bedeutungsfeld der „Kriminalität“ in Kombination mit „Ungeimpften“ ist dabei wohl kein Zufall, wenn man sich die Mehrzahl der Berichterstattungen rund um das Thema der Anti-Corona-Demos oder überhaupt kritischer Stimmen genauer ansieht: Nach der gefährlichen Eskalation der kriminellen Ungeimpften auf den Demos[5] (auch wenn viele geimpfte Personen ebenso auf den Demonstrationen sind) folgt die gnädige Amnestie vonseiten des Staates.
Immerhin entlarvten sich Regierung und Medien selbst, wenn sie mit solchen Begriffen klarmachen, wie viel Bürgerinnen und Bürger ohne Covid-Impfung ihnen noch wert sind.
Unheimlich an der Sache ist jedoch nicht nur die Verwendung des Begriffes selbst, sondern dass er weitgehend widerspruchslos angenommen wird.
Wie auch die Kommentatoren von 0punkt frage ich mich: Wieso akzeptieren wir mittlerweile eigentlich als Gesellschaft völlig unkritisch solche Begriffsverwendungen? Und das in einer Gesellschaft, die ansonsten eine beachtliche Pedanterie an den Tag legt, wenn es um diskriminierende Begriffe geht? Eine Gesellschaft, wo in den (sozialen) Medien und insbesondere von „linker“ Seite immer wieder davon gesprochen wird, dass man „woke“ sein muss, also wach und hellhörig gegenüber Benachteiligungen und Diskriminierungen verschiedenster Art? Schon erstaunlich. Während nämlich auf sprachliche und sonstige Eskalationen von der „falschen“ Seite sofort eine Welle der Empörung folgt, sind Entgleisungen von der „richtigen“ Seite offenkundig völlig in Ordnung und fallen gar nicht weiter auf, ziehen auch keine Konsequenzen nach sich.
Die paradoxe Sprache und „Logik“ der neuen Normalität
Aber die Eskalation der Sprache begann schon sehr früh in der Pandemie: Der übergeordnete Begriff der „Neuen Normalität“ hat gewissermaßen den Rahmen vorgegeben, in welchem sprachliche Bedeutungsverschiebungen und Umdeutungen stattfanden und damit einhergehende gesellschaftlichen Umbrüche einleiteten.
Die „neue Normalität“ ist nicht weniger als das Setzen einer völlig veränderten Realität. Innerhalb dieser neuen Normalität als neue Realität finden alle sprachlichen Tabubrüche und Bedeutungsverschiebungen statt, die uns seither heimsuchen.
Ziemlich rasch wurde etwa damit begonnen, Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit zu politisieren oder um es deutlicher zu sagen: zu missbrauchen.
„Vernunft“ wurde vom philosophischen Erkenntnisprinzip zu Gehorsam und Folgsamkeit uminterpretiert[6] und Kritik wurde mit Verweis auf angebliche „Wissenschaftsfeindlichkeit“ und „Fake-News“ generalisierend abgeschmettert. Während sich irrende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die jedoch die Regierungslinien unterstützen, in einem Lernprozess waren und sind[7], so waren selbst renommierte Kritiker, die jedoch andere Thesen vertraten, in der medialen Berichterstattung automatisch Verbreiter von Fehlinformation.[8] Dass ein Christian Drosten, der noch vor vier Monaten eine Booster-Impfung für alle als unnötig bezeichnete[9], nun der Verbreitung von Fehlinformation bezichtigt würde, würde aber wohl niemandem einfallen. Dass die Virologin Dorothee van Laer im September davon sprach, dass wir noch 1 Million immunisierte Menschen in Österreich brauchen, damit die Pandemie vorbei sei[10], nur um dann dreieinhalb Monate später davon zu fantasieren, dass mitunter nur mehr dreifache Geimpfte am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen[11] und die Pandemie offenkundig nicht vorbei ist, ist offenbar keine Fehlinformation und wird ihr nachgesehen.
Erneut ein interessantes Messen mit zweierlei Maß, für das es seit Beginn der Pandemie dutzende Beispiele gibt, wie ich sie auch oben bereits genannt habe. Ein weiteres: Während etwa mittlerweile politisch völlig eindeutig sein dürfte, dass Omikron brandgefährlich ist[12], geben Virologen zu bedenken, dass man eigentlich zu wenig wisse, um hier wirklich etwas zu sagen und sich gegen vorschnelle Spekulationen aussprechen.[13] Ist das nicht interessant? Spekulationen von der falschen Seite sind unsolidarisch und lebensgefährlich, Spekulationen von politisch richtiger Seite, vonseiten der Macht und Hegemonie sind offenbar völlig in Ordnung.
Gleichsetzung, Assoziationen und Euphemismen
Über die ellenlange Liste solcher argumentativen Paradoxien werde ich an anderer Stelle noch einmal gesondert schreiben.
Zurück aber zum Begrifflichen. Beliebt sind in der politisch-medialen Sprache besonders Begriffe, die Assoziationen zu anderen Begriffen zulassen, die man jedoch oftmals erst auf den zweiten Blick identifizieren kann.
Eine derartige Kuriosität sind etwa die Bezeichnungen „impfwillig“, „impfunwillig“, „Impfwillige“[14], „Impfunwillige“. Auch sie deuten auf eine völlig unkritische Sprachverwendung hin, die historisches Fingerspitzengefühl vermissen lässt: Von den Impfwilligen ist es assoziativ nicht weit zu den „Hilfswilligen“. Und wer war damit gemeint? Als Hilfswillige (in Kurzform „HiWis“) wurden jene Menschen beschrieben, die im Zweiten Weltkrieg in okkupierten Gebieten (des Ostens) der deutschen Rüstungsindustrie, aber auch der Wehrmacht zuarbeiteten und manchmal mehr, manchmal weniger in kriegsverbrecherische Machenschaften involviert waren.[15]
Ein weiterer Aspekt in der neu-normalen Sprachverwendung ist jener der Gleichsetzung. Wie ich bereits mehrfach am Beispiel der Demonstrationen klargestellt habe, werden Demonstrationen gegen die politischen Corona-Maßnahmen, Impfpflicht etc. automatisch als Aufmarsch von Impfgegnern und Rechtsextremen bezeichnet.
Übrigens ist es auch eine unverschämte Gleichsetzung, wenn Menschen einen Davidstern mit dem Schriftzug „ungeimpft“ tragen und damit die rassistische Verfolgung von Juden durch den Nationalsozialismus mit der Ausgrenzung der Ungeimpften gleichsetzen. Welche Analogien von Ausgrenzungsmechanismen es gibt und inwiefern sich diese über die Jahrhunderte stark gleichen, habe ich jedoch in meinem letzten Beitrag genau analysiert.[16]
Als eine ebenso verkürzte und pejorative Gleichsetzung kann man es bezeichnen, wenn Geimpfte von ungeimpften Personen als „Schlafschafe“[17] bezeichnet werden. Auch mit dem Wort „Faschismus“ wird am Ende viel zu flapsig umgegangen (übrigens von allen möglichen politischen Seiten) und er bedürfe mit Blick auf die gegenwärtige Situation einer genauen Untersuchung.
Und wenn man schon beim Thema Geschichte ist: Ein Beispiel für einen völlig ahistorischen und unsensiblen Umgang mit Sprache, ist der Begriff „Corona-Leugner“. So es Leute gibt, die Corona wirklich noch leugnen, sind sie wohl erstens völlig in der Minderheit. Zweitens verweist der zweite Teil des Begriffes mit „Leugner“ (hier wird übrigens plötzlich nicht mehr gegendert, das aber nur am Rande) ganz klar auf das Phänomen des Holocaust-Leugnens. Menschen also, die aus verschiedenen (teils fundierten, teils verständlichen, teils nicht nachvollziehbaren) Gründen die Covid-Impfung ablehnen oder Maßnahmen kritisieren, werden mit dem Begriff der Leugnung in die Nähe der schlimmsten aller Leugnungen gebracht. Oder fällt meinen Leserinnen und Lesern sonst eine Leugnung ein, die derart moralisch verwerflich, (in einigen Ländern strafrechtlich relevant) und abstoßend ist? Mir nicht.
Ein weiteres beliebtes Mittel im politischen Umgang mit Sprache ist der Euphemismus.
„Corona-Maßnahmen“ verweist in sehr gewitzter Weise darauf, dass hier Einschränkungen vonseiten der Politik geschehen, diese aber Corona allein angelastet werden müssen und neutral als Maßnahmen tituliert werden, ganz so, als hätte die Politik nichts damit zu tun. Es ist ein Euphemismus dafür, dass die Politik so gravierend wie schon Jahrzehnte nicht in unser Leben eingriff und eingreift (auch wenn dies in zumindest manchen Punkten nachvollziehbar und vermutlich notwendig ist/war). Euphemismen sind grundsätzlich ein beliebtes politisches Mittel, um das Unzumutbare den Bürgern zumutbar zu machen. „Social Distancing“ und „Kontaktreduktion“ klingt eben viel netter als Vereinzelung.
Und „boostern“, eine technische Metapher, die an Sportwagen erinnert, klingt doch viel innovativer als „Auffrischungssimpfung“ – ein Begriff, der nämlich verdeutlicht, dass die Impfung offenbar doch nicht so lange und gut schützt wie gedacht/gehofft.
Interessanterweise hat man beim Wort „Lockdown“ keine Euphemismen angewandt, sondern den finsteren Begriff wie einen Monolithen immer wieder auf unseren Kopf fallen lassen. Möglicherweise, weil LOCK-DOWN den Ernst der Lage unterstreichen soll.
Hass spricht: Bosetti, Sargnagel und Co.
Nun bringe ich endlich Bosetti ins Spiel. Das Zitat von Sarah Bosetti hätte es eigentlich nicht verdient, als Eingangszitat verwendet zu werden. Es sollte aber verdeutlichen, wie weit wir in dieser Krise sprachlich schon gekommen sind und wie weit sprachlich manche von denen gekommen sind, die sich hauptberuflich mit Sprache beschäftigen. Bosetti hatte den Blinddarm-Vergleich sowohl in der ZDF-Reihe „Bosetti will reden“ gebracht als auch auf Twitter verschriftlicht. Da sie nachher einen Shitstorm erhielt (von rechter Seite und rechten Journalisten, wie sie behauptet), hat sie ein „Entschuldigungsvideo“ gedreht, das beinahe schlimmer ist als das Zitat selbst und eben nicht von einem Sprachbewusstsein zeugt, sondern von einer selbstgerechten Attitüde, mit welcher man klarmacht, dass man einer von den Guten und Richtigen ist. Bosetti entgegnet in dem Video, dass die Kritik an ihrem Statement ja gar nicht stimmen könne, weil sie (angeblich) von rechter Seite kommt, und Bosetti das Wort Blinddarm ja nicht wie ein Nazi verwende. Sie schlussfolgert: „Menschen mit Körperteilen zu vergleichen ist in unserem Sprachgebrauch ja nicht direkt unüblich.“ [18] Jeder historisch gebildete Mensch kann sich auf eine solche Art der „Entschuldigung“ seinen eigenen Reim machen.
Das Zitat steht am Ende ohnehin für sich selbst und verdeutlicht, dass es nicht aus einem Satireprogramm stammt, wo die Satirikerin bloß eine Rolle spielt und damit kritisch auf die argumentativen Abgründe der Gesellschaft verweist, ihr dabei einen Spiegel vorhält; sondern diese Aussage ist selbst ein solcher Abgrund.
Ein Abgrund, der sich seit fast zwei Jahren mehr und mehr vertieft und das vielfach vonseiten jener Menschen und Medien, die sich ansonsten immer gerne über diskriminierende Sprache empören und sich nicht selten als Sprachpolizei aufspielen. Vielfach ist diese Empörung nachvollziehbar, so es sich um tatsächliche Drohungen, rassistische, sexistische Beschimpfungen usw. handelt, die natürlich ernst zu nehmen sind und gegen die teilweise vorgegangen werden muss. Insbesondere die Rubrik des Hass-Kommentars hat seit dem Aufschwung von Social Media eine deutliche Zunahme bekommen. Homophobie, Rassismus, Antisemitismus und dergleichen tummeln sich im World Wide Web, oft auch hinter anonymisierten User- und Userinnen-Namen.
Irreführend ist bei der Thematik „Hass im Netz“ allerdings, dass kolportiert wird, alle Hass-Kommentare würden nur von rechts bzw. rechts außen kommen. Ein großer Irrglaube, welcher der Komplexität dieser Thematik nicht gerecht wird, wie ich an einigen weiteren Beispielen zeigen werde.
Viele, die ansonsten immer wieder aktivistisch betonen, wie wichtig es ihnen ist, gegen Hass im Netz, gegen Gewalt in der Sprache, gegen Sexismus, Rassismus usw. vorzugehen, haben – man verzeihe mir die müde Metapher – nun ihre Maske fallen lassen.
Sie scheinen es vielfach in Ordnung zu finden, die eigenen Maßstäbe über Bord zu werfen oder aber mit mehrerlei Maß zu messen.
Nun ist es plötzlich kein Problem mehr, sprachlich diskriminierend zu agieren, Menschen zu beschimpften, zu verspotten, sie als dumm, ungebildet, unsolidarisch, gefährlich abzustempeln, sie als Blinddarm der Gesellschaft zu bezeichnen, den man ja leicht entfernen kann.
Besonders spannend wird die Analyse dieser Spracheskalation, wenn man sich erneut dem Thema der Ungeimpften nähert. Eine Zunahme an Gewaltfantasien und Tiermetaphern deuten auf eine Eskalation hin, die nicht nur von der Staatsspitze („die Zügel für die Ungeimpften straffer ziehen“, „den Ungeimpften drohen ungemütliche Weihnachten“ etc.)[19], sondern gerne auch von Kulturschaffenden und Journalisten verbreitet und zelebriert werden. Der österreichische Journalist Robert Misik etwa bemüht einmal mehr in einem jüngsten Tweet die plumpe Zuschreibung der Corona-Leugnung mit Blick auf Demonstranten.[20] Dass er sein Mantra an Worthülsen regelmäßig wiederholt, um es vor sich und der Welt glaubhaft zu machen, ist jedoch harmlos im Vergleich dazu, was Misik „humorvoll“ auf seiner Facebook-Seite am 12. November mit Blick auf die Impfrate veröffentlichte. Dort postete er das Bild eines Blasrohrschützen und schrieb dazu: „Ein präziser "Blow Job" und wieder ist einer geimpft…“[21] Unter dem Deckmantel des Scherzes werden hier sexualisierte Gewaltfantasien zutage gefördert, die einen fassungslos machen. Aber man will natürlich nicht humorlos sein und muss derlei deswegen wenn nicht witzig, so zumindest erträglich finden. Auch wenn 20 % der Bevölkerung aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen sind und sich die verächtliche Aggression gegen diese Gruppe richtet.
Die Schriftstellerin und Theatermacherin Puneh Ansari argumentiert übrigens am selben Tag ähnlich „lustig“ und ist dafür, dass man Scharfschützen mit Impfmunition aufstellen könnte, um die Impfquote zu erhöhen.[22]
Eine weitere Humoristin in diesem Bunde ist Stefanie Sargnagel, die sich von der biertrinkenden, rauchenden Nihilismus-Autorin zur gesundheitsbewussten Corona-Jüngerin gemausert hat und Anfang Dezember mitsamt ihrer Antifa-Truppe für Innenminister Karner bzw. Nehammer auf die Straße ging. Natürlich, um gegen die bösen Nazi-Demonstranten zu agitieren.
In einer Rede auf dieser Gegendemonstration, die sie selbst auf Instagram als politische Hetzrede bezeichnet, sagt Sargnagel unter anderem mit Blick auf rechte Esoteriker, sogenannte Nazi-Hippies, dass Menschen, die mit Nazis mitmarschieren „Nippies“ seien, und zwar „Scheiß Nippies.“ Am Ende ihrer Rede fordert sie ihre grölenden Fans auf, ihr „laut und deutlich nachzusprechen, wenn ich dazu aufrufe: Energiesteine zerschlagen! Einhörner schlachten! Astralkörper verjagen! Nippies in die Klangschalen scheißen! Nippies in die Klangschalen scheißen!“[23]
Nun bin ich weder Apologet rechter Esoterik, noch Fürsprecher der Rechten und Rechtsextremen in den Reihen der Demonstrierenden. Ich bin auch kein Anhänger überhaupt irgendwelcher esoterischer Strömungen, finde diesen Grad an sprachlicher Gewalttätigkeit und Primitivität dennoch beachtlich.
Imperative für Sargnagels Gefolgsleute, banale Beschimpfungen, jenseitige Fremdzuschreibungen übelster Art, kurz: Feindbilderzeugung und Feindbilderhaltung auf niedrigstem Niveau.
Dass Sargnagel allein schon von dem Begriff „Spaltung“ nichts hält und jede Art von Dialog als unnötig empfindet, hat sie übrigens schon an anderer Stelle gezeigt: In einer Karikatur, die im Falter erschien und die sie auch auf Instagram gepostet hat, stehen sich zwei Männchen gegenüber, wobei das eine Männchen sagt, dass es die Spaltung der Gesellschaft beängstigend finde und kein Impfgegner sei. Es plädiere für Empathie und dafür, dass man die Entscheidung Anderer respektieren solle, das Männchen würde auch jene respektieren, die sich impfen lassen würden. Daraufhin hüpft das andere Männchen ihm auf den Kopf und kackt ihm ins Gesicht. Als das betroffene Männchen entsetzt fragt, was das soll, antwortet das Kackende : „Respektiers!“[24]
Die Diskursfigur hinter all den Argumentationen dieser Aggression ist allzu leicht durchschaubar: In Ordnung ist es, weil man ja gegen die „Bösen“ diskriminierend vorgeht, gegen die Nazis, gegen die Rechten, die Radikalen, so wie auch in obigem Zitat von Bosetti skizziert.
Durcheinandergebracht werden dabei erstens die Begriffe rechts, rechtsextrem, Nazi und Neonazi. Hier werden im aktivistisch verkürzten Jargon (siehe Bosetti) keine Differenzierungen vorgenommen, die dem komplexen politischen Spektrum der Rechten gerecht werden. Um die politischen Positionen von Menschen zu kritisieren, müsste man aber genau wissen, womit man es zu tun hat. Plumpe Fremdzuschreibungen oder gar Projektionen führen da nicht weit. Fairerweise muss man sagen, dass Sargnagel bei aller Idiotie ihrer Worte mit dem Verweis auf Esoterik etwas ausspricht, was streckenweise sicher zutrifft, jedoch nicht die Begründung für die Corona-Proteste liefert. Esoterik hat es zur Zeit moderner Wissenschaft immer gegeben, sie ist jedoch nicht Schuld am gegenwärtigen Unmut der Menschen.
Zweitens gilt offenbar jegliche Form der Kontaktschuld; jeder, der mit Rechten denselben Demozug teilt, wird zum Nazi. Auch, wenn es eigentlich linke Menschen sind. Diese Art der Kontaktschuld gilt auch für Argumente und Gedankengänge. Jeder, der in manchen Dingen dasselbe denkt wie ein Rechter, ist automatisch auch rechts oder gar ein Nazi. Im Übrigen eine grobe Verharmlosung dessen, was „Nazi“ wirklich bedeutet.
Drittens erscheint offenbar ausnahmslos jeder rechts, der an bestimmten Meinungsnarrativen Kritik übt und sich ihnen nicht unterwirft, was mit Punkt zwei zusammenpasst.
Ein Beispiel: Der ansonsten eher maßnahmentreue (und geimpfte) Philosoph Richard David Precht wurde mit einem Mal als rechts tituliert, weil er in einem Podcast mit Markus Lanz im Oktober 2021 beim Thema Kinderimpfung skeptisch war und seine Kinder (noch) nicht impfen lassen wollte.[25] Auch wenn Precht an selber Stelle betonte, dass dies nur seine persönliche Meinung und keine Empfehlung sei, (er aber gegen den politisch und gesellschaftlich aufgebauten Druck auf Eltern sei), reichte dieser offen ausgesprochene Skeptizismus aus, dass ein Shitstorm über ihn wehte, der ihn als Schwurbler, rechts, Querdenker usw. verunglimpfte.[26] Auch die feministische Journalistin Jutta Ditfurth schrieb nur einen Tag nach dem Podcast auf Twitter: „Wann ist #precht eigentlich so nach rechts abgedriftet? Der war doch früher eher sowas wie linksliberal?“[27]
Bei all dem stellt sich schon die Frage, was gesellschaftlich geschehen ist, dass die oft differenzierten (und vielfach auch treffenden) Analysen von Precht für derartigen Unmut in der Twitteria und sonstigen Social Media-Bubbles sorgen. Was es bedeutet, wenn Skeptizismus und Kritik an Politik und Macht nicht mehr erlaubt sind und jede Deckungsgleichheit mit „rechten“ Argumenten dazu führt, dass man plötzlich auch ein Nazi ist.
Brandbeschleuniger des Autoritären
Diese ideologisch verbohrte Verengung des öffentlichen Diskurses findet bereits seit vielen Jahren statt, Corona war jedoch der Brandbeschleuniger, der den Autoritarismus vollends entfesselte. Jeder ist nun mittlerweile ausnahmslos ein Rechter oder Querdenker, wenn er auch nur leise Kritik an der 2G-Regel, der Impfpflicht, Freiheitsbeschränkungen oder an den Überwachungspraktiken durch eine überbordende und dystopisch anmutende Digitalisierung äußert. Viele schweigen daher und denken es sich heimlich. Denn das Problem: Er oder sie ist auch nicht aus dem Schneider, wenn er oder sie bereits geimpft ist. Du musst das Richtige denken und die richtigen Begriffe verwenden!
Umso schlimmer wird es natürlich bei all jenen, die gar nicht geimpft sind.
Sie sind Feinde der Wissenschaft, Kriminelle, Häretiker. Und daher darf man sie eben beschimpfen, ist doch klar.
„Eine Diskriminierung von Ungeimpften ist ethisch gerechtfertigt“ titelte das Qualitätsmedium „Die Zeit“ schon letzten Sommer.[28] Na dann. Welche intellektuellen Leserinnen und Leser würden sich dem entgegenstellen, wenn selbst ein Medium wie „Die Zeit“ das alles gut und richtig findet? Eben.
[1] https://twitter.com/maternus/status/1467106205957033987/photo/1 , abgerufen am 27.12.2021. [2] Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Suhrkamp 2003, S.86. [3] Vgl. https://tvthek.orf.at/profile/ZIB-2/1211/ZIB-2/14117284/Epidemiologe-zu-den-Lockerungen/15059072 , ca. ab Minute 05:18, abgerufen am 22.12.2021. [4]Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=YTSARyRtPXI&t=1150s , ca. ab Minute 6:21, abgerufen am 22.12.2021. Danke an die Jungs von 0punkt! [5] Ich distanziere mich an dieser Stelle natürlich von jeglicher Form tatsächlich radikalisierten Protestes, lehne jedoch pauschale Urteile und diffamierende Fremdzuschreibungen ab. Immerhin muss man dem ORF zugestehen, dass der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger auch kritisch zu Wort kommt, wenn es um das Sündenbockdenken geht, das in der Gesellschaft um sich greift vgl. https://vorarlberg.orf.at/stories/3134272/ , abgerufen am 27.12.2021. Gleichzeitig ist es interessant, dass Schmidinger sich unwidersprochen dazu äußert, dass die Wortwahl („türkises Ungeziefer“) vonseiten der Demo-Veranstalter verroht ist. Dies „erinnert natürlich an vergangene Sprachformen, sage ich mal in der Politik, die wir nicht wiederhaben wollen.“. Ich sehe das natürlich auch so, muss an der Stelle jedoch anmerken, dass jedweder Vergleich vergangener Sprachformen mit dem Umgang mit Ungeimpften immer wieder empört zurückgewiesen werden. [6] Vgl. mein Blog-Beitrag gemeinsam mit Rebecca Mossop namens „Brave New Words“- https://www.jandavidzimmermann.com/post/brave-new-words-neue-normalit%C3%A4t-und-vernunft-als-gehorsam-in-techno-medialen-corona-diskursen , abgerufen am 23.12.2021. [7] Vgl. https://www.gg-digital.de/2021/01/wir-wissen-zu-wenig/index.html , abgerufen am 23.12.2021. [8] Vgl. etwa der Fall Hockertz, der von verschiedenen Faktenchecker-Portalen „wiederlegt“ wurde: https://correctiv.org/faktencheck/2020/04/02/coronavirus-nicht-gefaehrlicher-als-grippe-warum-stefan-hockertz-behauptungen-in-die-irre-fuehren/ , abgerufen am 27.12.2021. [9] Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/corona-schutzimpfung-drosten-101.html , abgerufen am 28.12.2021. [10] Vgl. https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/6032703/Virologin-Von-Laer_Wir-brauchen-noch-eine-Million-Immunisierte-um , abgerufen am 28.12.2021. [11] Vgl. https://kurier.at/politik/inland/von-laer-ich-bin-mittlerweile-fuer-eine-1-g-loesung/401851276 , abgerufen am 28.12.2021. [12] Vgl. Karl Lauterbachs Aussagen zu Omikron in Deutschland; https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/faktencheck-lauterbach-ist-omikron-fuer-kinder-gefaehrlich-li.199834 , abgerufen am 27.12.2021. [13] Vgl. Die Aussagen des Virologen Schmidt-Chanasit: https://www.rnd.de/gesundheit/corona-variante-omikron-virologe-schmidt-chanasit-warnt-vor-spekulationen-UDFNCYOZRDZXDBCCLKN6GDBHQM.html , abgerufen am 23.12.2021. [14] Auch wenn der Begriff in der Medizin üblich ist, so wurde er insbesondere ab 2021 übermäßig und inflationär verwendet: Während die Stichwort-Suche nach „Impfwillige“ im Jahr 2020 in deutschen Medien nur 1626 Ergebnisse liefert, finden sich seit Anfang 2021 bereits über 34000 Ergebnisse zu dem Stichwort in den deutschen Medien. Dies ergab eine Online-Recherche über das Portal Wisonet, eine Mediendatenbank für Hochschulen an 23.12.2021. [15] Vgl. Thomas Nigel: Hitlers Eastern Legions 1942-1945. Bloomsbury 2020. [16] Vgl. https://www.jandavidzimmermann.com/post/raum-und-ausgrenzung , abgerufen am 23.12.2021. [17] Kurios ist dabei: Bei oberflächlichen Online-Recherchen finden sich eigentlich nur pejorative, satirische und dokumentarische Beiträge zum Thema Schlafschaf und Verschwörungstheoretiker oder kritische Berichte und Blogs zu dem Phänomen der Verschwörungstheorien. [18] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=d4QIFFS53Rc , ab Minute 4:05, abgerufen am 28.12.2021. [19] Vgl. https://orf.at/stories/3236156/ , abgerufen am 27.12.2021. [20] Vgl. https://twitter.com/misik/status/1473659074973687808?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%5Etweet, abgerufen am 23.12.2021. [21] Vgl. https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=10159646084609084&id=538334083 , abgerufen am 23.12.2021. [22] Vgl. https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=10221848081255642&id=1366190238 , abgerufen am 23.12.2021. [23] https://www.instagram.com/p/CXGeruZDw0P/ , abgerufen am 27.12.2021. [24] https://www.instagram.com/p/CWF40-aDDUX/ , abgerufen am 27.12.2021. [25] Dies sagte er in einem Podcast mit Markus Lanz vom29.10. 2021, vgl. https://lanz-precht.podigee.io/10-ausgabe-neun , ca. ab Minute 15. Abgerufen am 27.12.2021.. [26] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/richard-david-precht-ueber-corona-impfung-ich-habe-nie-vorgehabt-jemandem-angst-zu-machen/27808150.html , abgerufen am 27.12.2021. [27] https://twitter.com/jutta_ditfurth/status/1454879319927496707?ref_src=twsrc%5Etfw, abgerufen am 27.12.2021. [28] https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-07/corona-impfung-pflicht-ethik-massnahmen-grundrechte, abgerufen am 27.12.2021.
zu Fußnote 8: widerlegen schreibt man nicht mit ie
Das alles ist nicht neu, sondern baut auf etwas anderem auf. https://www.youtube.com/watch?v=FSYCJT9ATc0
Die insbesondere bei der "brahmanischen Linken" (Piketty) habituell verfestigte Annahme, die "Rechten" mit allen diskursiven Mitteln zu bekämpfen sei Staatsdoktrin (und moralisch legitim), reflektiert nicht zuletzt eine politische Blindheit in Bezug auf soziale Missstände bzw. eine himmelschreiende Inegalität innerhalb unserer Gesellschaft.
Das Postulat einer moralisch/ethisch legitimen Form der Verunglimpfung oder Diskriminierung wird jeden geschichtsbewussten, vor allem aber einfühlsamen Menschen erschüttert zurücklassen.